Ich kenne dich
Haare zurück. Sie erwartete von den anderen immer Rücksicht, und sie bekam sie. Ihr Vater hatte Angst vor ihr – was er allein auf Hormone und Monatszyklen zurückführte. Ihre Mutter fand, sie hätte einen Bruder oder eine Schwester haben sollen, und ließ ihr deshalb viel durchgehen. Die Schule kannte ihre Geschichte – die Tatsache, dass dies die vierte Highschool war, die sie besuchte, und der Stadt blieb nichts anderes übrig, als sie auf der Schule zu lassen oder für einen weiteren Jugendsozialarbeiter und einen Hauslehrer zu bezahlen.
»Ich kann nicht glauben, was du da eben zu mir gesagt hast. Ich fasse es nicht.« Sie war konsterniert wie nie zuvor, und ich hatte Angst. Ja, sie war egoistisch und unvernünftig, und wahrscheinlich hatte sie die halben Weihnachtsferien auf dem Rücksitz von Carls Wagen verbracht und die andere Hälfte damit, Emma davon zu berichten, aber jetzt redete sie mit mir – und was, wenn sie nie wieder mit mir reden würde?
»Okay, was ist los mit dir? Erzähl.«
»Das versuche ich ja. Ich dachte eigentlich, du bist meine Freundin?«, entgegnete Chloe.
Sie sah tatsächlich bekümmert aus. Ernsthaft. Es hatte nicht den Anschein, als versuchte sie nur, sich vor dem Geländelauf zu drücken, und sie wirkte auch nicht verkatert oder tat so. Sie sah aus, als hätte sie geweint. Aber ich hatte beobachtet, dass Chloe auf Kommando weinen konnte. Sie heulte manchmal, wenn Carl ihr keine SMS schickte, um sich zu vergewissern, ob sie gut zu Hause angekommen war, nachdem er sie abgesetzt hatte. Sie heulte, wenn Amanda sie anschrie. Trotzdem hatte es den Anschein, als hätte sie heute Morgen geweint und sich dann ein Stück Klopapier geschnappt und versucht, ihr Make-up auszubessern. Winzige Fetzen feuchtes Papier klebten an ihren Wimpern.
»Starr mich nicht so an. Komm mit zur Toilette. Ernsthaft, ich werde es dir sagen, aber du musst schwören, es niemandem zu erzählen. Bei deinem Leben.«
Ich folgte Chloe auf die Mädchentoilette. Was auch immer nicht mit ihr stimmte, würde meine Schuld sein – ich konnte es vorhersagen, garantieren und hätte mein Leben darauf verwettet. Aber es war auch eine Erleichterung. Die Alternative – dass ihr Schweigen öffentlich fortgesetzt wurde auf dem großen Präsentierteller unseres Lebens an der Schule – war etwas, an das ich nicht zu denken wagte.
»Kommst du, oder nicht?«, fauchte Chloe mich über ihre Schulter hinweg an. Sie wusste, dass ich mich nicht gern dort aufhielt.
Unsere Toilette zu Hause roch nach dem kleinen gelben Klotz, den Barbara in den Spülkasten legte, und nach der Schale mit getrockneten Blütenblättern und Tannenzapfen und Zeugs, die immer auf der Fensterbank stand. Aber das Schulklo roch nach dem, wofür es benutzt wurde, und nach Zigaretten und Blut. Es roch, als hätten alle ihre Periode und kämen gerade vom Sport. Es war grauenhaft. Ich versuchte immer, vorausschauend zu planen, und ging morgens zu Hause noch mal auf die Toilette, kurz bevor ich aufbrach, und dann erst wieder, wenn ich zurückkam.
Wir gingen hinein, vorbei an den Aufsichtsschülerinnen, die in der Nähe der Tür standen. Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass niemand in der Toilette rauchte oder die Wände vollkritzelte. Drinnen stand eine Gruppe aus der Elf zusammengedrängt vor den Spiegeln. Sie rauchten und bekritzelten die Wände und lauschten abwechselnd in den Kopfhörer eines Walkman, den eine dabeihatte. Auch wenn es nicht die Mädchen waren, die mich immer getriezt hatten, als ich in der Siebten und der Achten war, würdigte ich sie keines Blickes. Ich sah auf Chloes Tasche, die direkt vor meinem Gesicht war. Sie war hellrosa, und sie hatte mit Kuli »Carl« draufgeschrieben und ein Herz drumherum gemalt. Chloe marschierte direkt zu der hintersten Kabine, die am weitesten von der Tür entfernt lag. Ich blieb vor dem gesprungenen Waschbecken stehen, und Chloe sah mich wieder stirnrunzelnd an.
»Komm endlich.«
Ich folgte ihr in die Kabine. Innen an der Tür hing ein Infoblatt über Chlamydien, und alles war vollgekritzelt mit Tipp-Ex-Stift oder zerkratzt mit einem Zirkel: Namenslisten von Leuten, die sich angeblich mit Chlamydien infiziert hatten, und von wem sie es sich geholt hatten. Die Tür blieb an meinem Rucksack hängen, als ich versuchte, sie hinter mir zu schließen. Ich drehte mich zur Seite, um Platz zu machen, und stieß Chloe den Ellenbogen in den Magen.
Chloe zischte leise »Verfluchte Kacke«, und ich wollte ihr
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