Ich kenne dich
einfach so »Geschlecht« zu mir sagte. Chloe würde einen Anfall bekommen, wenn ich ihr das erzählte.
»… dass sie kurz bei mir reinschauen soll, wenn sie wieder da ist, falls sie quatschen möchte, über was auch immer. Sie kann sich auch an eine Lehrerin wenden, wenn ihr das lieber ist.«
»Kann ich gehen?«, stammelte ich. Ohne sein Nicken abzuwarten, verließ ich den Raum, die feuchte Jacke immer noch umklammernd, mit offener Tasche, aus der Papiere und Hefte herausfielen und sich über den Flurboden verteilten, und eilte zu meiner ersten Stunde.
Nach Schulschluss fuhr um zwanzig nach drei ein Bus, der immer überfüllt war. Drei Jahre lang hatte ich absichtlich getrödelt, um den Bus um zwanzig vor vier zu nehmen, der nicht so voll war. An dem Tag, als Chloe vor dem Schultor zusammengebrochen und ins Krankenhaus gebracht worden war, hatte der erste Bus offenbar Verspätung oder fiel sogar aus, denn selbst noch um viertel vor vier erstreckte sich die Warteschlange an der Haltestelle über den ganzen Gehweg. Es waren hauptsächlich Schüler aus anderen Klassen, keine Freunde, aber vertraute Gesichter – die sich gegenseitig auf die Straße schubsten, wenn ein Auto kam, oder Chipstüten und zerbeulte Getränkedosen herumkickten.
Mir war früher schon aufgefallen, dass immer dieselbe Art von Leuten den späteren Bus nahm. Wahrscheinlich würde es Außenstehenden nicht auffallen, aber uns war klar, was für eine Art. Leute, die keine Gesellschaft suchten, weder an der Haltestelle noch im Bus. Weil wir zusammen waren, aber nicht zusammen sein wollten, respektierten wir das Schweigen und die Privatsphäre der anderen, und das war gut so. Es gab kein Schieben und Drängeln und Andere-Anspucken. Keine Mädchen in Super-Minis, Overknee-Strümpfen, mit Walkman und Haaren, die nach Qualm stanken und steif waren vor lauter Haarspray. Im zweiten Bus herrschte eine andere Atmosphäre. Sobald alle eingestiegen waren, saßen wir still da und hatten unseren Doppelsitz für uns alleine. Keiner las im Bus, aber wir hatten das Gefühl, als hätten wir das machen können, wenn wir gewollt hätten.
An jenem Tag standen mindestens dreißig Leute herum, außerdem saßen noch ein paar auf der niedrigen Mauer vor dem Spar. Ich war in Gedanken vertieft – tüftelte meinen nächsten Schachzug wegen Emma und Chloe aus und fragte mich, was Chloe fehlte. Als ich die riesige Schlange sah, ging ich direkt daran vorbei – ohne zu überlegen, ohne stehen zu bleiben. Ich zog die Jackenärmel über meine Hände, und niemand beachtete mich. Ich konnte genauso gut in die Stadt laufen und dort den Bus nehmen. Ich konnte auch den ganzen Weg zu Fuß nach Hause gehen, wenn es sein musste – und Kalorien verbrennen, was mir wahrscheinlich guttun würde.
Ich blieb vor dem Spar stehen und tastete nach dem Kleingeld in meiner Jacke, nur um sicherzugehen, dass ich genug für eine Cola hatte, bevor ich hineinging. Innen an der Ladentür hing ein Schild, auf dem in schwarzen Großbuchstaben stand, dass immer nur ein Kind im Laden sein durfte.
Ich spähte durch das Schaufenster, um zu sehen, ob noch jemand – das heißt, jemand in Schuluniform – im Laden war, als mir ein anderer Aushang ins Auge stach, und mitten drauf prangte Wilsons Gesicht, darunter ein kleiner Text.
Ich glaube, mein Körper wusste, was das für ein Aushang war, bevor mein Gehirn es erfasste. Selbst bevor ich den Text gelesen hatte, spürte ich, wie das Blut aus meinem Gesicht wich, und meine Hände schnellten wie von selbst hoch in Magenhöhe, als würde ich einen Schlag erwarten. Ich musste gehen und mich auf eine Bank schräg gegenüber der Bushaltestelle setzen und eine Weile lang meine Schuhspitzen betrachten. Tief durchatmen und den Kopf so weit einziehen, dass der kalte Reißverschluss meiner Jacke unter meinem Kinn baumelte. Und nachdem ich mich beruhigt hatte, war ich überzeugt, dass ich mich hineingesteigert und mir alles nur eingebildet hatte.
Ich ging langsam zum Laden zurück vor all diesen Leuten, die mir nach wie vor keine Beachtung schenkten. Der Bus war immer noch nicht da, und ich stand herum und tat so, als würde ich auf ihn warten, aber tatsächlich schlenderte ich zu dem Plakat zurück, um einen zweiten Blick darauf zu werfen und den Text zu lesen und mich zu vergewissern. Als ich wieder vor der Tür stand, wedelte der Mann hinter der Verkaufstheke wütend mit der Hand, als würde ich etwas stehlen wollen. Ich verzog mich rasch, für den Fall, dass er
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