Ich kenne dich
sich an mein Gesicht erinnerte.
Aber das nützte nichts. Durch das Weglaufen wurde ich nicht wieder los, was ich gerade gesehen hatte, und es würde mir auch nicht gelingen, es zu vergessen. Von dem Laden und der Haltestelle führte die Straße bergab, und während ich auf dem Gehweg entlangmarschierte, änderte sich meine Perspektive, und ich hatte einen freien Blick, den Hügel hinunter zu der Brücke über den Fluss und über das flache Stück mit den Schrebergärten bis in die Stadt. Es war fast Abenddämmerung, und die Straßenlampen erwachten langsam zum Leben mit einem rötlichen Schein: Sie sahen aus wie Lollis, die die Straße säumten, und ich sah, sehr deutlich, dass noch mehr Plakate an jedem einzelnen Laternenpfahl klebten, den ganzen Berg hinunter – auf beiden Seiten. Ich würde an mindestens zehn oder fünfzehn davon vorbeikommen. An mehr noch, wenn sie bis in die Stadt reichten und bis zum Busbahnhof.
Und das werden sie, dachte ich, weil Wilsons Mum und Dad die Plakate hatten drucken lassen. Sie werden sich auf ein paar Aushänge in den Außenbezirken nicht beschränkt haben. Das ganze Stadtzentrum wird damit zugepflastert sein, und wo ich auch hingehe, werde ich sein Gesicht sehen, oder zumindest ein aktuelles Foto von ihm, so stark vergrößert, dass es fast die gesamte Fläche auf dem Papier einnimmt. Ich kann nicht glauben, dass sie mir nicht schon vorher aufgefallen waren. Ich war so besessen von Chloe und ihrer Silvesterparty gewesen, dass ich zwischen Weihnachten und Schulbeginn kaum aus dem Haus ging. Mein letzter Ausflug in die Stadt war mit Barbara und Donald gewesen, um das Parfüm zurückzubringen, als Donald so anstrengend war und der ganze Trip so demütigend, dass ich praktisch die ganze Zeit den Kopf gesenkt hielt. Barbara hatte recht: Ich lief manchmal wirklich mit eingezogenem Kopf bis tief in den Kragen herum.
Das Foto musste am ersten Weihnachtstag gemacht worden sein, weil Wilson ein rotes Partyhütchen aus einem Knallbonbon trug, das leicht schief auf seinem Kopf saß. Er wirkte überrascht, mitten in einem Lachen oder Schrei, mit wässrigen Augen und offenem Mund, der zu einem überglücklichen Lächeln verzogen war, ohne dass er sich bewusst war, dass er seine auseinanderklaffenden Zähne zeigte und sein Gesicht vor Schweiß glänzte. Es gab Sachen, die mir vorher nicht aufgefallen waren, vor allem, wie fein seine Haare waren, wie weich sie über seine Stirn fielen und sich an den Schläfen lichteten, und dass er Falten in den Augenwinkeln hatte.
Wilson war viel älter, als ich bei unserem Kennenlernen vermutet hatte. Aber was spielte das für eine Rolle? Seine Eltern wollten ihn nicht für einen Kinder-Schönheitswettbewerb anmelden – sie hatten ein Foto gewählt, das sie gerade zur Hand hatten und auf dem nicht nur sein Gesicht gut zu sehen war, sondern auch der Grund für ihre Sorge und seine Verwundbarkeit, was dasselbe war. Und sie hatten sein Bild auf hunderte von Plakaten drucken lassen und Stunde um Stunde damit verbracht, sie überall aufzuhängen, als wäre er ein unbezahlbarer, unersetzbarer Rassehund, der entlaufen war und für den eine Belohnung ausgesetzt war.
Ich riss eins der Plakate von einem Laternenpfahl, stopfte es in meine Jacke und rannte los. Es war immer noch eisig kalt draußen: Jeder Tag schien ein bisschen kälter zu sein als der vorherige, und der Untergrund war tückisch glatt. Ich verdrehte mir den Knöchel auf einer gefrorenen Pfütze und stürzte, und als ich nach Hause kam, schlich ich humpelnd durch den Hintereingang. Es war dunkel draußen.
14
Barbara stand am Herd und kostete mit gespitzten Lippen von einem Löffel. Die Küche dampfte: Das Fenster war beschlagen, und die Gardine klebte an der Scheibe. Der Fernseher im Wohnzimmer lief und war lauter gestellt, damit sie bei offener Tür zuhören konnte, während sie kochte. Terry, natürlich, machte eine Telefonumfrage über die angedachte Ausgangssperre – sollte die Stadt ihren Plan weiterverfolgen, uns ab zwanzig Uhr nicht mehr aus dem Haus zu lassen, zumal es aussah, als hätte der Täter im Winter aufgehört?
»Mum?«
Sie legte den Löffel auf einen Unterteller und blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Bevor sie den Mund aufmachen und mir eine Aufgabe geben konnte, erzählte ich ihr, dass Chloe im Krankenhaus lag.
»Ich muss sie besuchen. Ich möchte mit ihr reden und sehen, ob es ihr gut geht. Kann ich etwas Geld für den Bus haben?«
»Kann ich etwas Geld für
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