Ich krieg dich!: Menschen für sich gewinnen - Ein Ex-Agent verrät die besten Strategien (German Edition)
weiß nur, dass das nicht sein richtiger Name ist. Sie nennen ihn so.«
Klar, dachte ich. Wer heißt schon so, wie er heißt. Das galt ja schließlich auch für mich. Ich reichte Tichow das nächste Bild. Und wieder hatte er etwas zu erzählen.
»Der da«, sagte er und zeigte auf einen der Männer in der Gruppe, »das ist Dimitri. Auch aus der Ukraine. Der wird es zu nichts bringen. Der taugt nichts. Diebstahl ja, Raub geht schon nicht mehr. Feigling.« Er lachte. Sein Wertesystem war eindeutig. Er zeigte auf die Männer neben Dimitri. »Der da, das ist ein kleiner Zuhälter, und der daneben verkauft Stoff. Kleine Mengen, direkt an fertige Junkies. Der ist selbst sein bester Kunde.«
Ich reichte ihm das letzte Foto. Tichow studierte es länger als alle anderen. Das wunderte mich. Ivan spielte schon längst keine Rolle mehr in der Organisation. Tichow seufzte. »Das ist Ivan. Aus Russland. Der war mal ganz gut. Dann hat er sich verliebt. Richtig verliebt. Eine Russin. Hat Medizin studiert oder so was. In München, glaub ich. Und er wollte weg. Raus. Nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Denn sie wollte ein ehrliches Leben führen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, mit der er das ehrliche Leben in die Elbe kippte. »Als sie rausbekommen hat, womit er sein Geld verdient, hat sie Schluss gemacht. Er hat gebettelt wie ein Hund. Auf Knien ist er gerutscht. Hat geschworen, dass er ein besserer Mensch wird. Aber für sie war Schluss. Ende. Aus. Sie hat ihm das Herz gebrochen. Er hat viel Wodka gebraucht. Russischer Wodka ist Medizin.«
Tichow hielt plötzlich inne, als hätte ihn das Ganze nachdenklich gemacht, und schaute zu den Kränen. Ein Stück dahinter konnte man die Speicherstadt mit ihren roten Backsteinhäusern erkennen.
Eine Spaziergängerin mit einem schwarzen Pudel, gewaschen, gelegt, gefönt, lief durch das Bild. Tichow lachte und fuhr sich durch die kurzen Stoppelhaare. Dann wurde er wieder ernst. Er gab mir das Bild von Ivan zurück. Ich spürte, dass er ihn gemocht hatte, und freute mich, dass Tichow ein Mensch mit Gefühlen, Emotionen und Geschichten war. Was für die meisten Menschen in der Legalität völlig normal sein mag, haben viele Kriminelle wie Tichow auf ihren Wildwechseln in der Schattenwelt verloren.
Tichow war emotional berührbar. Andere Kriminelle in dieser Liga sind das nicht mehr. Man nennt sie abgebrüht, und das ist kein Wunder. Ihr Job bringt das so mit sich. Andererseits ist es eine Frage des Blickwinkels. Wir empfinden diese Kriminellen als abgebrüht, weil wir uns auf ein anderes Wertesystem beziehen. Wie ich vorhin gehört hatte, stand auch in Tichows Wertesystem einer, der raubte, also vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckte, über einem, der bloß stahl. Es ging noch ein paar Stufen höher über Erpressung, Freiheitsberaubung bis hin zu Mord.
Ein Wertesystem entsteht nicht von heute auf morgen. Es wächst mit den Erfahrungen, passt sich an. In Tichows Kreisen relativiert es sich besonders schnell und besonders großzügig. Mit jeder Grenzüberschreitung der Gesellschaft gegenüber wird die Grenze niedriger. Bis sie flachgetrampelt am Boden liegt und nicht mehr als Grenze empfunden wird. Zuerst fällt die Unterscheidung zwischen Mein und Dein. Und so geht es weiter. Die Folge sind ein ausgeprägter Egoismus, Gefühlskälte, Machtbesessenheit und Rücksichtslosigkeit. Alles dreht sich nur noch um die eigenen Geschäfte. Koste es, was es wolle. Menschenleben sind wenig wert, wenn sie die eigenen Interessen behindern.
Doch die Mafia ist keine Einbahnstraße. Es gibt Wege zurück in die Gesellschaft. Die meisten Menschen, die zurückfinden, verdanken dies einem einschneidenden persönlichen Erlebnis, das ihr
Wertesystem wieder neu kalibriert. Ob das die Geburt eines Kindes ist, eine schwere Krankheit oder der Tod eines nahestehenden Menschen. Solche Ereignisse sind wie Wegweiser — und plötzlich gibt es doch wieder ein Leben außerhalb der Organisation.
Als ich die Fotos zurück in den Umschlag steckte, fiel mir das erste Foto ein, das ich von Tichow gesehen hatte. Das lag nun schon einige Monate zurück. Meine Intuition hatte mich nicht getäuscht. Tichow hatte das Potenzial, ein Großer zu werden, der lang und erfolgreich mit uns zusammenarbeitete. So wie er sich mir präsentierte, konnten wir ihn in vielen Fällen einsetzen. Denn er war nicht nur emotional berührbar, sondern auch intelligent, flexibel und mutig. Das machte es natürlich auch für
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