Ich lebe lieber hier und jetzt
weiterzuerzählen.
Fragte sich nur, wem.
sein
glück ist ihr glück
»Und wenn er jetzt gerade
allein zu Hause hockt und sich die Pulsadern aufschlitzt oder so was?«, sorgte
sich Vanessa laut. Sie starrte gereizt auf das lederbehoste Hinterteil ihrer
zweiundzwanzigjährigen Schwester. Ruby lehnte im Türrahmen ihres Zimmers und
telefonierte gleichzeitig über Festnetz und Handy mit ihrer Band, um die
letzten Details der bevorstehenden Tour zu klären.
»Island!«, kreischte sie.
»Boah, wie abgefahren ist das denn? Wir sind auf Platz fünf der Indie-Charts in
Reykjavik!«
»Wow, superduper!«, murmelte
Vanessa gelangweilt und checkte zum sechzigsten Mal ihre Mails, obwohl ihr
sowieso niemand schrieb. Sie hatte sich so in die Vorstellung reingesteigert,
Dan wäre von sämtlichen Unis abgelehnt worden, dass sie ihn schon auf der
George-Washington-Brücke stehen und ein allerletztes Gedicht verfassen sah,
bevor er dann in die Fluten sprang. Und auch wenn er doch irgendwo angenommen
worden war, erlebte er womöglich gerade einen lebensentscheidenden apokalyptischen
Moment und watete in der Nähe des kleinen Jachthafens nackt in den Hudson, um
sich von dem Nega- tivkarma reinzuwaschen, das ihm die zum Schreiben so nötige
kreative Energie absaugte.
Wäre Vanessa ehrlich mit sich
selbst gewesen, hätte sie sich allerdings eingestehen müssen, dass sie sich gar
keine solchen Sorgen machte. Dan schrieb gute Noten und war ein brillanter
Jungschriftsteller. Natürlich würde er einen Studienplatz bekommen. Eigentlich
suchte sie doch nur einen Grund, ihn anzurufen, weil er ihr nicht mehr aus dem
Kopf ging, seit sie ihn am Montag im Park getroffen hatte.
Sie hatte schon überlegt, ihn
unter dem Vorwand anzurufen, ihr würde noch ein Interview für ihren Film
fehlen, aber das wäre dermaßen platt und durchsichtig gewesen, dass sie schon
beim bloßen Nachdenken darüber einen nervösen Hautausschlag bekam. Sie hatte
auch erwogen, seine jüngere Schwester Jennifer anzurufen und zu behaupten, sie
wolle sie als Angehörige eines Betroffenen befragen. Jenny hätte Dan bestimmt
von ihrem Anruf erzählt und er hätte sich vielleicht bei ihr gemeldet oder ihr
gemailt. Aber das war ihr dann doch zu kindisch gewesen.
Ruby stand immer noch
telefonierend in der Tür. Das war der Haken daran, dass Ruby im Wohnzimmer
schlief und Vanessa im einzigen Schlafzimmer der Wohnung. Ruby betrachtete
Vanessas Zimmer als ihr Wohnzimmer.
»Sekunde mal. Da klopft jemand
an«, sagte Ruby zu ihren Bandkollegen am anderen Ende. Sie hielt sich die Nase
zu und quäkte mit Pseudo-Computerstimme: »Zurzeit sind alle
Leitungen besetzt...« Sie horchte in den Hörer. »Ach, du bist s, Daniel.
Macht's dir was aus, später noch mal anzurufen? Ich stecke gerade mitten in
einer wichtigen Telefonkonferenz mit meiner Band. Wir übernehmen nämlich die
Weltherrschaft.«
Vanessa machte einen
Hechtsprung und riss Ruby das Telefon aus der Hand. »Hallo?«, sagte sie mit
bebender Stimme. »Dan? Alles... alles klar bei dir?«
»Und wie!« Seit Vanessa ihn
kannte, hatte Dan noch nie so glücklich geklungen. »Ich bin überall drin. Nur
die Columbia wollte mich nicht.«
»Wow!«, staunte Vanessa und
versuchte, diese Information zu verarbeiten. »Aber du willst auf die Brown,
das steht fest, oder? Ich meine, du denkst nicht darüber nach, auf die NYU oder
eine andere Uni zu gehen...«
»Weiß ich noch nicht«, sagte
Dan. »Das muss ich mir noch mal durch den Kopf gehen lassen.«
Sie schwiegen. Gut, das
Naheliegende hatten sie jetzt besprochen, aber es gab noch so viel anderes zu
bereden, dass es sie beide etwas überforderte.
»Hey, dann gratuliere ich auf
jeden Fall herzlich«, presste Vanessa hervor. Sie wurde plötzlich traurig. Dan
würde an die Brown nach Providence, Rhode Island, gehen, wo er vermutlich
irgendeine dünne Schickse aus Vermont mit braunen, langen Haaren kennen lernen
würde, die töpferte und Gitarre spielte und ihm Pullis strickte; und sie würde
in New York bleiben, an der NYU studieren und weiter mit ihrer durchgeknallten
Schwester zusammenwohnen.
Ruby schnappte sich das Telefon
wieder. »Hey, Dan! Ich geh mit der Band nächste Woche für acht Monate auf Tour.
Zieh du doch hier ein! Du kannst dir mit meiner kleinen Schwester ein
kuscheliges Liebesnestchen bauen!«
Vanessa funkelte sie wütend an.
Typisch Ruby, ihr mit ihren taktlosen, peinlichen Aktionen alles zu versauen.
Als Ruby ihr das Telefon zurückgab, zögerte Vanessa kurz,
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