Ich lieb dich, ich lieb dich nicht (German Edition)
mich tatsächlich daran erinnern zu können. Aber vielleicht ist es nur Einbildung, das kann natürlich auch sein. Aber ich meine, diesen Kuss wieder zu spüren – und Ingos Gesicht klar vor Augen zu haben, wie er mir zum Abschied die Muschel schenkte.
Tja, wären wir damals zusammengekommen und bis heute zusammengeblieben, wäre uns beiden eine Menge Liebesleid erspart geblieben. Ich stehe auf und gehe zurück zum Haus. Ausgiebiges Duschen, Frühstück und Zeitungslesen sind angesagt.
An dem Kiosk, an dem ich auf dem Weg nach Hause vorbeikomme, kaufe ich wie immer zwei frische Brötchen, eine Flasche Orangensaft und die Hamburger Morgenpost. Nachdem ich mich geduscht und angezogen habe, schmiere ich mir ein Brötchen mit Marmelade, eins belege ich mit Schinken, dann trinke ich zwei Gläser O-Saft und schenke mir dann eine heiße Tasse Kaffee ein. Eigentlich könnte ich es so ganz gut aushalten, denke ich, während ich nachdenklich hinaus aufs Meer blicke. Aber ich weiß ja, dass ich mich nicht ewig hier verstecken kann. Spätestens nach dem Wochenende muss ich wieder zurück in mein echtes Leben. Schon allein wegen des Ladens. Mir graut davor.
Grübelnd greife ich nach meinem ausgeschalteten Handy, das vor mir auf dem Tisch liegt. Ob ich es mal wieder einschalten sollte? Nein, im Moment möchte ich noch die Ruhe genießen. Ich werde mich noch früh genug damit beschäftigen müssen, wie mein Leben nun weitergehen soll. Seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück, greife nach der Zeitung und schlage sie auf.
Auf Seite zwanzig bekomme ich eine unverhoffte Hustenattacke. Denn ich kann nicht glauben, was ich da sehe: Ganz oben, auf der linken Seite, lächelt mich jemand an, den ich kenne: Julia. Was macht die denn in der Morgenpost?
Hastig überfliege ich die Zeile: »Julia Beutler – glücklich und auf Erfolgskurs.« Sofort merke ich, wie mein Puls losrast. Dann lese ich, was Julia-ich-bin-glücklich-und-auf-Erfolgskurs-Beutler den Journalisten der Morgenpost so zu erzählen hat. Drei Minuten später bin ich erschüttert. Und erleichtert. Und unheimlich sauer. Wenn ich Ingo zwischen die Finger kriege …!
Mit quietschenden Reifen kommt mein Corsa eineinhalb Stunden später vor Ingos Schule zum Halten. Zwar stehe ich halb in der Feuerwehreinfahrt, aber das ist mir egal. Bin schließlich auch so etwas wie ein Notfall. Ich springe aus der Tür und renne auf den Eingang zu. Dann laufe ich noch einmal zurück, schnappe mir die Morgenpost vom Beifahrersitz und presche damit ins Gebäude. Unter den verwunderten Blicken einiger Schüler, die mir entgegenkommen, sprinte ich die Treppe in den zweiten Stock hoch, wo sich das Lehrerzimmer befindet. Die Tür steht offen, ohne Zögern laufe ich hinein. Ich bin im Ausnahmezustand, da kann ich auf gutes Benehmen keine Rücksicht nehmen. Aber Ingos Platz ist – bis auf ein paar Hefte – leer.
»Hallo, Carla«, werde ich von Margit begrüßt, die ein paar Tische weiter sitzt und mich etwas irritiert ansieht.
»Was gibt’s denn? Du siehst ja so hektisch aus?«
»Wo ist Ingo?«, bringe ich schwer atmend hervor.
Margit zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich im Unterricht.«
»In welchem Raum?«
Margit steht auf, kommt auf mich zu und mustert mich besorgt. »Beruhige dich doch erst einmal«, sagt sie, »du bist ja völlig durch den Wind. Habt ihr euch gestritten, oder was ist passiert?«
Unwillig schüttele ich den Kopf, gebe mir aber Mühe, nicht mehr ganz so hysterisch zu klingen. »Bitte, Margit«, sage ich so ruhig wie möglich, »kannst du mir sagen, wo Ingo gerade ist?«
Immer noch etwas irritiert geht Margit zur großen Tafel an der Längsseite des Raums, auf der sämtliche Lehrerinnen und Lehrer in einen Plan eingetragen sind. »Er müsste in der 7b sein, Raum 346«, meint sie dann.
»Danke«, rufe ich und presche wieder davon.
»He!«, ruft sie mir hinterher. »Warte doch hier! In zehn Minuten ist sowieso Pause.«
»Keine Zeit!«, brülle ich zurück und galoppiere durch den Flur Richtung Treppe. 346 – das müsste im dritten Stock sein. Schwer atmend bleibe ich vor dem Klassenraum stehen. Ich hole noch einmal tief Luft, dann drücke ich die Klinke herunter.
»Carla?« Ingo fällt fast die Kinnlade herunter, als ich plötzlich vor ihm stehe. Und nicht nur ihm – circa dreißig Siebtklässler starren mich an, als wäre ich der Heilige Geist.
»Ich muss mit dir reden!«
»Aber ich hab gerade Unterricht«, erwidert Ingo und guckt auf seine Uhr,
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