Ich lieb dich, ich lieb dich nicht (German Edition)
mit der Hand vor Wut auf den Tisch. »Warum habe ich das nicht früher gesehen? Warum habe ich immer von der großen Liebe auf den ersten Blick geträumt? Warum habe ich nicht eher erkannt, was für ein wunderbarer Mann Ingo für mich wäre? Auch, wenn wir uns schon ewig kennen und es eben nicht mit dem lauten Knall begonnen hat?«
Mama guckt mich groß an – und auf einmal bemerke ich, dass sie ein paar Tränen in den Augenwinkeln hat. »Mama?«, will ich wissen. »Was hast du denn?« Sie zögert einen Moment, dann beginnt sie etwas stockend zu sprechen.
»Carla, mein Schatz«, sagt sie, und ihre Stimme zittert. »Ich muss dir etwas sagen.« Sie steht auf, geht zur Küchentür und ruft meinen Vater, der im Wohnzimmer geblieben ist, um unser »Frauengespräch« nicht zu stören. Eine Minute später steht er in der Tür, dann setzen meine Eltern sich wieder an den Tisch. »Wir hätten das schon viel früher tun sollen«, erklärt meine Mutter.
»Was tun sollen?«
»Dir erzählen«, sagt mein Vater, »dass deine Mutter und ich uns überhaupt nicht auf dem Ball kennengelernt haben.«
»Wie bitte?«
Mama schüttelt den Kopf. »Wir haben uns einfach nicht getraut, dir die Wahrheit zu sagen. Weil wir diese Geschichte doch vor allen so viele Jahre aufrechterhalten haben, selbst Tante Ilse kennt die Wahrheit nicht. Aber wenn wir damit unserer einzigen Tochter irgendwelche unrealistischen Dinge in den Kopf gesetzt haben, dann müssen wir spätestens jetzt reinen Tisch machen. Wie gesagt, wahrscheinlich schon viel zu spät.« Und dann folgt eine ganz unglaubliche Geschichte:
»Deine Mutter«, fängt Papa an, »hat sich damals auf eine Kontaktanzeige von mir gemeldet. Wir trafen uns auf einen Kaffee, dann auf noch einen und noch einen, gingen ein paarmal miteinander essen und tanzen – und verliebten uns allmählich ineinander.«
»Aber vor fast vierzig Jahren«, fährt Mama fort, »war das eben nicht wie heute. Da gab es keine Flirtpartys oder Single-Börsen im Internet. Das gezielte Suchen nach einem Partner war da noch verpönt.«
»Deshalb haben wir uns das mit dem Fest ausgedacht. Wir haben uns dort verabredet, und deine Mutter kam in Begleitung von Tante Ilse.«
»Ich brauchte schließlich eine Zeugin für unsere erste Begegnung.«
»Tja«, Papa lacht kurz auf. »Und dann haben wir für Ilse ein nettes, kleines Theaterstück inszeniert. Seitdem haben wir jedem gegenüber behauptet, dass wir uns auf diesem Fest kennengelernt haben.«
»Die Geschichte mit dem ›Du bist es!‹«, flüstere ich fassungslos.
»Genau diese Geschichte«, bestätigt meine Mutter und wirft mir einen zerknirschten Blick zu. Aber ich bin ihr gar nicht böse. Ich kann meine Eltern sogar ganz gut verstehen, wie gern hätte ich später davon berichtet, wie Ingo und ich uns im Reisebüro kennengelernt haben.
»Schatz?«, will meine Mutter wissen. »Alles in Ordnung?«
»Ja, sicher«, erwidere ich. »Macht euch keine Gedanken, ich glaube nicht, dass ich nur deshalb in Sachen Liebe so verschroben geworden bin. Und wenn doch, können wir es jetzt eh nicht mehr ändern. Der Zug mit Ingo ist sowieso abgefahren.«
Und so sitzen wir zu dritt am Küchentisch, gucken uns ratlos an und wissen auch nicht mehr so recht, was wir noch sagen könnten. Was soll man zu einer derart verfahrenen Sache auch noch sagen?
»Gut«, bricht mein Vater schließlich das Schweigen, steht auf und geht zum Herd. »Dann koch ich uns mal was Leckeres zum Essen.«
»Essen ist immer gut«, kommentiere ich. Mein Handy piept, ich krame es aus der Handtasche.
Liebe Carla, kannst du morgen Abend um acht bei mir vorbeikommen? Ich muss Dir etwas Wichtiges sagen. Liebe Grüße, Ingo.
Notiz an mich selbst:
Bis morgen Abend üben: Überrascht
sein, wenn Ingo dir
mitteilt, dass er Papa wird.
Dann euphorisch ausrufen:
»Mensch, Ingo! Ich freu mich
ja so für euch!«
Ich tippe »Geht klar« in mein Handy und drücke auf »Senden«. Mal sehen, wie klar das geht.
11. Kapitel
Es gab in meinem Leben schon so einige Momente, in denen mir der Arsch auf Grundeis gegangen ist. Meine letzte Mathearbeit an der Schule zum Beispiel. Meine Meisterprüfung. Die beiden Male (oder waren es drei Mal?), die ich mit klopfendem Herzen vor einem Schwangerschaftstest gehockt habe – und bei denen ich im Gegensatz zu Julia bei einem positiven Ergebnis alles andere als selig gewesen wäre.
Aber das alles ist nichts im Vergleich zu dem, wie ich mich jetzt gerade fühle.
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