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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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wären! Hat man dafür geschuftet, damit man eines Tages so dasteht? Ohne erkennbaren Anlaß. Sie glauben auch nicht, daß es physisch bedingt ist. Das beruhigt mich. Und auch wieder nicht. Man wird alt. Über mich ist eine große Gleichgültigkeit gekommen. Ich kann und mag meinen Zustand nicht mehr vertuschen. Ich sage einfach, ich hätte Kreislaufbeschwerden. Bisweilen kokettiere ich mit meinem Alter. Da bekommt man sehr schmeichelhafte Antworten. Zu Hause natürlich nicht. Und dann kommt wieder die Nacht, und ich denke über mich nach, versuche mich zu analysieren. — Meine von Ihnen geschürte Leidenschaft für Psychologie! — Warum hast du dich so geplagt? frage ich mich. War’s Flucht in die Arbeit, weil’s zu Hause nicht stimmt? Aber da stimmt’s ja. Wir sind an sich glücklich. Ganze drei Seitensprünge in mehr als zwanzig Ehejahren! Und die auch nur zufällig. Das soll mir erst mal einer nachmachen! Oder was meinen Sie?«
    Die Antwort ist eine Gegenfrage:
    »Vielleicht waren Ihnen drei zu wenig?«
    »Ich kenne mein Blut, Doktor. Milde Sorte, kein zweiter Frühling. Im Gegensatz zu vielen meiner Altersgenossen. Manche haben eine geradezu masochistische Lust, sich lächerlich zu machen.«
    »Das sagt sich so leicht. Vereinigung ist immer noch die einzige und zugleich angenehmste Form der Todesüberwindung. Das nur zu Ihrer Information.«

II

    Eigentlich war es nur ein Katzensprung. Ihm schienen es Hunderte von Kilometern, die ihn trennten vom Werk, von den Freunden, von der Familie. Eine knappe Autostunde von zu Hause entfernt, fühlte er sich wie außerhalb der Welt. Sanatorien sind außerhalb der Welt, mit der sie — die besseren jedenfalls — nur den technischen Fortschritt gemein haben. Das in alpenländischem Stil errichtete Haus vor dem Postkartenprospekt des Sees lag behäbig im Grün wie ein alter Hof. Zahlreiche Anbauten und Nebengebäude deuteten jedoch darauf hin, daß seine Bewohner nicht mehr dem Ackerbau und der Viehzucht nachgingen, sondern es auf urbanere Weise zu nicht zu übersehendem Wohlstand gebracht hatten. Statt des Misthaufens an der Längsseite zwischen Wohn- und Stallhälfte glänzte ostereibunt ein überfüllter Parkplatz. Vor dem Eingang, wo früher einmal der Brunnen gestanden haben mochte, an den Besucher die Pferde banden oder ihre Fahrräder lehnten, stand im Schatten der Thujenhecke auf geteerter Straße Wagen hinter Wagen. Aufwendige Gefährte zumeist, jenseits der gehobenen Mittelklasse und mit Nummern aus dem Norden. »Preußenlager« sagten die Einheimischen. Hier fühlte er sich heimisch. Zahlreiche, ausgesucht hübsche Angestellte boten in offenherzigen Dirndln eine befeuernde Mischung aus Sex und bäurischer Mädchenblüte feil. Wo er stand, saß, lag, wurde er umsorgt, gebadet, massiert, mit vitaminreichen Säften erquickt, in Decken gepackt der Sonne serviert. Spektakulärer Aufwand um seine Person hinderte ihn, den Tageslauf als Zwang anzusehen, den Kurbetrieb als Dienst in einer Gesundheitskaserne für müde Führungskräfte. Freiwillig in der Herde mittrottend erholte er sich von der Verantwortung. Ohne Herkules.
    Nur im Speisesaal, wo mit dem gastronomischen Brimborium eines erlesenen Soupers Schonkost aufgetischt wurde, fühlte er sich anfangs an seine Beschwerden erinnert. Die zur Auswahl stehenden Menüs waren so zusammengestellt, daß sie bestimmte Organe nicht belasteten. Da jeder Gast einen anderen Körperteil schonen mußte, hatte es sich eingebürgert, bei Bestellung nicht Hauptspeise und Beilagen aufzuzählen, sondern nur das zu schonende Organ zu nennen. Und die Saaltöchter wiederholten laut: Zwei Leber, eine Galle, vier Magen und zwei Darm.
    Gleich am ersten Abend war sie ihm aufgefallen — die Dame am Nebentisch.
    Dieses Gesicht! Wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen?
    Er mißachtete das Diätrezept gewissenhaften Einspeichelns, schlang, um als erster aufstehen und, wie bei Vollpension üblich, zu den Nebentischen grüßen zu können. Aber sie aß noch schneller, oder weniger, erhob sich, als er gerade von einem zu großen, stark tropfenden Salatblatt entstellt den Kopf abwandte.
    Erst anderntags sah er sie wieder. Sie stand an der Rezeption, beschwerte sich über eine Störung, die nach ihrer Auffassung mit dem Preis unvereinbar sei. Er trat hinzu, nickte eifrig, um mit seinem Namen begrüßt zu werden, was auch geschah. Sie drehte sich um, der Ärger wich aus ihren Zügen, die stattliche Brust straffte das

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