Ich mach mich mal dünn - Neues aus der Problemzone
sich ihr Anwendungsbereich praktisch unbegrenzt erweitern lässt. Manchmal muss man ein bisschen weiter ausholen – und schon sind auch die missgünstigen Nörgler und die »Ich weiß, was du letzten Sommer gegessen hast«-Mahner mit Schuld am eigenen Gewichtsproblem. Und das ist auch gut so, denn Schuldzuweisen lohnt sich: Was, bitte, kann es Schöneres geben als einen astreinen Freispruch von jeglichen Schuldgefühlen?
Langzeitstudien in den USA gaben unzähligen Selbstzweiflern das gute Gewissen zurück, als sie bestätigten: Es sind tatsächlich die anderen, die an unserem Essverhalten schuld sind. Diese anderen stellen nämlich so einiges mit uns an: Sie manipulieren, verführen, hemmen, beflügeln oder bremsen uns – und zwar ziemlich gleichgültig, ob sie dick sind oder dünn, oder ob sie uns belehren wollen oder gerade nicht. Manchmal stellt allein ihre bloße Existenz bereits eine Manipulation dar.
Wären wir ganz frei von äußeren Einflüssen, hätten wir wohl kaum Problemzonen. Unser Körper ist nämlich eine recht praktische Einrichtung: Mutter Natur würde ihn nähren wie im Paradies, ganz ohne Überfressen;
immer genau richtig – nicht zu viel, nicht zu wenig; wir würden weder verhungern noch dauernd die Füllgrenze überschreiten. Leider funktioniert das heute fast nur noch bei Neugeborenen. Und diese Lebensphase lässt sich ja nicht beliebig verlängern.
Kaum der Mutterbrust entwachsen, ploppt ein Problem nach dem anderen ins junge Leben. Umwelteinflüsse machen Schluss mit dem natürlichen Regulationsrhythmus. Wir lernen, dass Essen nicht nur dazu dient, sich die zum Überleben notwendige Energie zu holen, sondern auch ein prima Trösterchen bei schlechter Laune, Langeweile und anderweitigen Unlustgefühlen ist. Die Konditionierung zur Fressmaschine beginnt früh: Stöpselgleich stopfen Eltern schnell einen Keks ins Kind, damit es nicht mehr klagt. Am Anfang halten sich die Erziehungsberechtigten noch an gewisse Regeln: Sie verwenden zur Ruhigstellung nur Reiswaffeln (Sie wissen schon: Styroporplättchen aus der Baustoffabteilung, die zu Nahrungsmitteln umdeklariert worden sind) oder die ungezuckerten Dinkel-Hafer-Modelle aus der Biotüte.
Hat das Kleine dann aber herausgefunden, wie man mithilfe von Wutanfällen den Einsatz von Gummibärchen provoziert, kann Mama die Dinkel-Dinger und die Reisplatten selber kauen.
Weil Gummibären im Übermaß schnell langweilig werden, muss irgendwann das gute alte Fläschchen ran: Vollgepumpt mit Zuckerwasser sichert es zehn schreifreie Minuten, wenn das Loch im Nuckel extra klein ist und die Flüssigkeit nur langsam herausgesaugt werden kann. Eine schöne Zeit. Ruhe im Babykarton. Gestresste Eltern können endlich tun, wonach sie sich schon lange gesehnt haben: mal wieder ungestört essen.
Das Baby wächst heran und beobachtet, dass Essen, Liebe, Zusammensein, Oma, Eltern, Kumpel, Lehrerinnen, die Kindergartenkonkurrenz und Stressfaktoren in allen erdenklichen Lebenslagen zusammengehören. Es kann gar nicht anders. So ein Baby hat schließlich keine Vergleichsmöglichkeiten. Immer, wenn es nicht schläft, sucht es die Nähe der größeren Menschen in seiner Umgebung. Es guckt, was die so alles tun und treiben – und möchte das auch. So festigen sich Gewohnheiten.
Eltern von Einzelkindern, die häufig die volle Kontrolle über deren Sozialkontakte haben, gelingt es in der Regel, eine Zeit lang zu simulieren, dass Schokolade, Chips & Co so eklig schmecken wie bittere Medizin und nur von Erwachsenen angerührt werden dürfen. Doch damit ist es spätestens dann vorbei, wenn die kleine Lina-Marie im Kindergarten mal in Kevins Tupperdose greifen durfte. Der hat nämlich Esssachen dabei, die jetzt von der»Für Kinder verboten!«-Liste auf den »Das muss ich haben!«-Zettel wechseln: Milchschnitte, Lollis, Lakritz, Mars, Snickers und deren Artgenossen.
Dass Kinder Süßigkeiten gerne mögen, ist übrigens kein Erziehungsfehler. In diesem Fall können geplagte Eltern ihre Schuldgefühle ruhig einmal abwälzen: Kleine Menschen essen mit dem Segen von Mutter Natur immer diejenigen Dinge am liebsten, die am süßesten sind. Das ist reine Prophylaxe, die Kindern in der Urhorde das Überleben sicherte.
»Dass Bengt-Benedikt mal Brokkoli isst, das wäre ein Traum«, seufzt seine Mutti stets, wenn der Fünfjährige am Tisch seine »Iiiih! Da ist was Grünes drin!«-Tour fährt und jedes Blättchen einzeln aus seinem Essen herauspopelt. Eltern müssen sich
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