Ich mach mir Sorgen, Mama
gesetzliche Gründe. Die ausländischen Namen dürfen in Deutschland nur nach der Isonorm in die Dokumente eingetragen werden. Also heiße ich zur Zeit nicht mehr Kaminer, sondern Kamjenier, und meine Frau wie eine Außerirdische: Ol’ga Grigor Evna. Eigentlich hätten wir noch, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, eine Bescheinigung vorlegen müssen, dass wir die russische nicht mehr besitzen. Da wir aber noch aus der Sowjetunion ausgereist waren und die russische Staatsangehörigkeit nie beantragt hatten, besaßen wir Flüchtlingsstatus und mussten das nicht extra von den russischen Behörden bescheinigen lassen. Diese Prozedur hätte nach russischem Recht Jahre gedauert und wahrscheinlich mit einem Desaster geendet, weil wir in Russland nicht gemeldet sind.
Unsere Kinder aber, die in Deutschland geboren wurden und nie in Russland waren, wurden logischerweise nicht als Flüchtlinge anerkannt. Also mussten die Kinder eine Bescheinigung vorlegen, dass sie die russische Staatsangehörigkeit besaßen beziehungsweise nicht besaßen. Oder sie mussten bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr warten und dann sehen, was kam. Die russische Seite sagte zwar, dass es eine solche Bescheinigung einer Nichtstaatsangehörigkeit nicht gab, wollte das aber niemandem schriftlich bescheinigen.
Trotz dieser Schwierigkeiten brach unser Kontakt zu den deutschen Behörden aber nicht ab. Wir waren ja deutsche Staatsbürger geworden – zwar mit vorläufigen Ausweisen, falschen Namen und staatenlosen ausländischen Kindern, aber was sollte es, es führte kein Weg zurück. Wir hatten auch keine Angst vor den Beamten an sich, wir wussten, dass sie nicht bösartig und manchmal privat sogar ganz nett waren. Sie mussten überhaupt nicht über ihre Arbeit nachdenken, nur mit dem Gesetzgeber im Reinen sein und den Vorschriften folgen. Und ich wusste: Früher oder später würden wir und die meisten anderen es schaffen.
Zurzeit warten über dreißigtausend Menschen aus aller Welt auf ihre Einbürgerung in Deutschland. Wie viele Beamten damit beschäftigt sind, ist mir unbekannt. Wir haben jedoch vor vier Monaten eine Namensänderung beantragt, um die geheimnisvolle Isonorm wieder aus unseren Namen rauszukriegen. Dafür musste ich zehn Seiten Formulare ausfüllen und eine ganze Pappkiste mit Verdienstbescheinigungen, Steuererklärungen, beglaubigten Adressen meiner Eltern und Großeltern liefern. Der zuständige Beamte versicherte uns mehrmals am Telefon, dass unsere Akte auf seinem Tisch ganz oben läge. Wir hoffen, es geht ihr gut.
Macho-Märchen
Obwohl unsere Kinder noch nicht richtig lesen können und mehr auf die Bilder als auf den Text achten, haben sie schon eine klare Trennlinie in ihrer gemeinsamen Kinderbibliothek gezogen. Die Geschmäcker der beiden sind unterschiedlich. Der Junge ist an Action interessiert, am liebsten am Leben mittelgroßer Monster. Das Mädchen will über die Liebe lesen. Deswegen stehen bei uns im Kinderzimmer links die Jungsbücher im Regal: Die Wikinger, Die große Drachenschlacht, eine Dinosaurier-Enzyklopädie und Die unglaublichen Abenteuer der Digitalmonster am Berg der Unendlichkeit. Auf der anderen Seite stehen Mädchenbücher: Schneewittchen, Cinderella und Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen. Auf diese Weise findet jeder sein Buch, schnell und unproblematisch.
In der letzten Zeit bekommen wir aber immer mehr Bücher aus Russland, die zu keiner der beiden Seiten passen. Zum Beispiel alte russische Märchen, Denkmäler der Volkskultur, die lange von den Kommunisten verheimlicht oder zensiert wurden und erst jetzt in ihrer ursprünglichen Form neu verlegt werden, üblicherweise in einem schweren goldenen Umschlag. Neulich stand ich im Kinderzimmer mit dem Märchenbuch Russische Recken unterwegs in der Hand und überlegte, wohin damit. Einerseits wird dort geschlachtet, was das Zeug hält, das Böse wird jedes Mal auf brutalste Weise zerschlagen, aber auch die Liebe kommt darin vor.
Eigentlich müsste man für dieses Buch ein Extraregal aufstellen. Es zeigt eine vollkommen neue Art von Literatur, das so genannte Macho-Märchen. Man kann das Buch auf jeder beliebigen Seite aufschlagen, die Fabel ändert sich in keiner Weise. Im Mittelpunkt steht immer der Hüne Ilia, ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, der für Gerechtigkeit und Ordnung eintritt. Wenn es irgendwo Streit gibt, wird er vom Volk gerufen. Und irgendeinen Streit gibt es immer.
»Ilia«, sagt das Volk zu ihm, »der
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