Ich mach mir Sorgen, Mama
Bierbüchse in der Hand.
»Wann gehen wir endlich nach Hause?«, drängten mich die Kinder alle fünf Minuten. »Wie lange sollen wir noch hier sitzen?«
»Noch dreizehn Jahre«, zischte ich.
Der offizielle Teil war endlich vorbei, die Kinder leerten die Schultüten, die Eltern besprachen auf dem Hof die neue Lebenssituation. Die meisten kannten sich bereits vom Kindergarten.
»Um halb sieben aufzustehen ist furchtbar, das habe ich seit meiner Schulzeit nicht mehr gemacht«, sagte die Mutter von Marie-Luise. Alle stimmten ihr zu.
»Wir werden uns umstellen müssen«, jammerte der Vater von Paul.
Seitdem sind zwei Wochen vergangen. Tag für Tag stehen wir nun um halb sieben auf, um das Kind in die Schule zu bringen. Wenn die Eltern der ersten Klasse in der Morgendämmerung die Schönhauser Allee überqueren, erinnert uns ihr Anblick stark an den alten Hollywood-Schocker Die Zombies aus der Geisterstadt. Die Autos halten immer an, um uns Vorfahrt zu lassen. Die Zombies der ersten Klasse verstehen um die Zeit nämlich keinen Spaß.
»Wir haben uns noch nicht richtig umgestellt«, schüttelt der Vater von Paul den Kopf.
»O lala, mamma mia!«, rollt die Mutter von Marie-Luise die Augen.
Um halb zwölf ist die Schule schon wieder aus, die Kinder müssen abgeholt werden.
»Und? Was habt ihr heute gelernt?«, fragen die Eltern ihre Sprösslinge.
»Weiß nicht«, sagen die einen.
»Wir haben den Buchstaben F gelernt«, sagen die anderen.
»Oh, toll«, freuen sich die Eltern, die nun langsam wach werden. Sie betrachten die F-Buchstaben in den Schulheften ihrer Kinder mit großem Interesse: ein großes fettes F, mit einem roten Bleistift hingekritzelt. Sie betrachten diesen Buchstaben mit Rührung, aber auch mit Sorge.
»Ich kann seit zwei Wochen nicht ausschlafen«, sagt die Mutter von Marie-Luise. Mich fragte sie danach: »Weißt du, wie viele Buchstaben es insgesamt im Deutschen gibt?«
»Sehr viele, ich glaube über dreißig, und das ist erst der Anfang«, antwortete ich.
Die Zombies verabschieden sich, am nächsten Tag fängt alles wieder von vorne an. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Gestern ist aus F ein »Fu« geworden. »Außerdem haben wir dem Hund die Ohren bemalt«, berichtete meine Tochter zu Hause. Es geht also voran.
Applikator Lapko
Die Medizin im Westen ist unaufdringlich. Man wird hier häufig nach dem so genannten Grippostad- Prinzip behandelt, mit Medikamenten, die die Leiden des Patienten mildern, ihn am Leben halten, aber nicht ganz heilen. Er muss noch einmal zum Arzt und noch einmal und am liebsten gleich dort bleiben, und wenn sein Schnupfen nicht von alleine verschwindet, dann machen wir ein Kardiogrammchen.
Ganz anders ist es in Russland, wo fast alle Menschen unversichert herumlaufen. Keiner wird dort für etwas Geld ausgeben, was möglicherweise in der Zukunft passieren könnte. »Was denn für eine Zukunft?«, sagen die Russen, wenn sie von einem Versicherungsagenten angesprochen werden. Sie leben hier und jetzt und haben eine ganz andere Sorge: alles rechtzeitig ausgeben, aufessen und austrinken – bis hin zum Toilettenpapier und zur Glühbirne. Das Licht muss aus sein, bevor man diese Welt endgültig verlässt.
Wenn sie krank werden, wollen sie kein »Kardiogrammchen« und keinen »Kommen-Sie-morgen-wieder«-Unsinn hören, sondern fordern ihre ultimative Heilung – sofort. Die Medizin muss sich nach den Wünschen der Patienten richten, also kommt jeden Monat irgendwo in Russland ein neues Wundermittel auf den Markt. Die Berichte darüber füllen die Zeitungsseiten. Sei es ein Balsam »Doktor Schiwago« oder ein heilender Topf von Oma Tamara aus der Tundra. Ihr ganzes Leben widmete Oma Tamara der Suche nach heilenden Extrakten, jahrelang hatte sie bis zur absoluten Verzweiflung Biberkot mit wilder Petersilie zusammengekocht, aber dann aus Versehen irgendetwas irgendwohin geschüttet, und plötzlich ist das Wundermittel da. Damit geht sie in das örtliche Krankenhaus, verteilt ihren Extrakt an die hoffnungslosesten Patienten, und wenn sie nicht gleich gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Die Menschen lesen die Zeitung, gehen in die Apotheke, kaufen die Dosen mit der Aufschrift »Geheimes Tundra-Rezept von Oma Tamara – hilft gegen alles, kostet fast nichts«. Aber nach einer gewissen Zeit lässt die Begeisterung nach. Die gleichen Zeitungen veröffentlichen Berichte skeptischer Professoren:
»Das mit der Oma war ein netter Versuch, aber es gibt wohl
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