Ich mach mir Sorgen, Mama
Vormittag, wenn die Sonne besonders stark brannte, versteckten sich die meisten im Schatten der Bar oder blieben auf ihren Zimmern vor dem Fernseher mit deutschem Programm. Nur Familien mit Kindern gingen zum Strand. Nicht zum schicken Hotelstrand am Fußballplatz, sondern zum richtigen kleinen Strand am Meer, der von einem pensionierten spanischen Piraten überwacht wurde. Er lief mit einem großen leeren Bierglas in der Hand durch die Gegend und kassierte für Schirme und Liegen. Umsonst war der Sand, das kristallklare Wasser und natürlich die Sonne.
Am Nachmittag belagerten Leute in Taucheruniform den Strand. Sie gingen mit schweren Sauerstoffflaschen, Bleigürteln und Unterwasser-Fotoapparaten ins Meer und kamen erst zum Abendessen wieder zurück. Müde, aber glücklich erzählten sie von den wunderbaren farbigen Fischen, Korallen und versunkenen Wracks, die sie angeblich unter Wasser besichtigt hatten. Sie zeigten einander ihre Fotos, auf denen leider gar nichts zu sehen war.
Der Tauchkurs »Die Wunder des Unterwasser-Cañons« für fünfzig Euro am Tag begeisterte immer mehr Urlauber. Die Nichttaucher durften dafür kostenlos eine große Qualle beobachten. Tag für Tag schwamm sie direkt ans Ufer und fiel jedes Mal einer anderen Kinderclique zum Opfer, was ihr allerdings nichts auszumachen schien. Am ersten Tag wurde sie von den zwei Töchtern des allein erziehenden Vaters entdeckt. Er war gerade aus dem tristen Alltag in die schöne Welt der Literatur geflüchtet und blätterte genüsslich in der Autobiografie des Autors Effenberg, Ich hab’s allen gezeigt, als ihn seine Kinder überfielen.
»Guck mal, was wir gefunden haben«, schrien die Töchter und drückten ihm das klebrige Tier an die Brust. In der Sonne fing die Qualle sofort an, sich auf dem Vater aufzulösen.
»Werft sie sofort ins Wasser zurück, aber schnell!«, rief der Vater streng und schaufelte mit dem Effenberg-Buch die Qualle von seiner Brust.
Am nächsten Tag wurde dasselbe Tier von spanischen Minderjährigen entdeckt. Sie steckten die Qualle in einen Eimer und übergossen sie mit Coca Cola. Einigen Erwachsenen gelang es schließlich, sie zu befreien. Die Qualle blieb aber trotzdem am Ufer und beeindruckte alle Vorbeigehenden mit ihrer neuen Farbe. Unter dem Einfluss der Cola war sie violett geworden. Wahrscheinlich konnte sie die giftigen Farbstoffe nicht verdauen. Meine lieben Kinder wollten dem Tier helfen, seine natürliche durchsichtige Farbe wiederzugewinnen. Zu diesem Zweck beschlossen sie, die Qualle in Sprite einzulegen. So klug können nur Kinder sein. Um sie vor weiteren klugen Kindern zu retten, brachte ich die Qualle so weit in das Meer, wie es nur ging. Sollte sie doch als lebende Coca-Cola- Werbung die Taucher im Unterwasser-Cañon erschrecken!
Nach einer Woche Urlaub merkten wir, wie die gesamte Ferienkolonie langsam durchdrehte. Beinahe neunzig Prozent aller Urlauber hatten sich inzwischen bei Dieters Tauchschule angemeldet. Im Kinderbecken lagen Rentner mit Masken, Flossen und Schnorcheln, die eine Gratis-Schnupperstunde bei Dieter gebucht hatten. Sie bereiteten sich so auf die Tiefsee vor. Die bereits Geschulten standen in Taucheranzügen am Strand Schlange, da die Boote nicht alle Kursteilnehmer auf einmal mitnehmen konnten. Abends bei der Minidisko erzählten sie einander ihre Taucherlebnisse. Unsere Familie schien dem allgemeinen Taucherwahn gut zu widerstehen. Die Zeit zwischen dem Frühstück und dem Abendessen verbrachten wir am Strand, nach der Minidisko gingen die Kinder ins Bett, wir mixten uns Cocktails auf der Terrasse mit dem versperrten Meerblick, spielten Karten und stritten uns gelegentlich über den Wochentag.
»Heute ist Mittwoch«, sagte meine Frau, »noch zwei Tage, und wir fliegen nach Hause.«
»Heute ist doch erst Montag, niemals Mittwoch«, entgegnete ich, »gestern gab es nämlich Sardinen, und Sardinen gibt es hier immer sonntags.«
Wir schalteten den Fernseher ein, um den wahren Wochentag zu erfahren. Es war viel los auf der Welt:
Deutschland spielte gegen Schottland um eine Qualifikation bei der EM, in Berlin wurde der deutsche Filmpreis an den Mutti-Thriller Good Bye, Lenin vergeben, der FDP-Politiker Möllemann seilte sich mit einem Fallschirm aus viertausend Metern Höhe endgültig ab – nur welchen Wochentag wir hatten, wurde nirgendwo berichtet.
»Ist im Grunde auch egal«, gab meine Frau nach, »diese Wochentage sind sowieso alle ausgedacht, ob Montag oder Mittwoch, bald kommt
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