Ich mach mir Sorgen, Mama
bewilligten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu signieren – in Erinnerung an unsere Begegnung. Ich setzte meinen Wladimir darunter und las mit einem Auge das Dokument durch. Interessant, wie man sich heute vor dem Wehrdienst drückt, dachte ich. Früher, hatten mir meine deutschen Freunde erzählt, musste man als überzeugter Christ auftreten, am besten barfuß und mit der Bibel in der Hand: »Es tut mir Leid, aber mein Glaube erlaubt es mir nicht, auch nur die kleinste Waffe in die Hand zu nehmen. Sonst alles, aber das eben nicht.« Und selbst dann wurde man nicht gleich in Ruhe gelassen, sondern von einem ganzen Gremium misstrauischer Erwachsener mit ausgeklügelten Fangfragen konfrontiert:
»Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch einen dunklen Park, und plötzlich sehen Sie, wie Ihre Mutter beziehungsweise Oma, Tante, Schwester überfallen wird. Was würden Sie tun?«
Ich würde für sie beten!, wäre wahrscheinlich die richtige Antwort gewesen. Doch nicht jeder konnte so etwas über die Lippen bringen – und schon landete er bei der Armee.
Inzwischen kann es hier jeder Atheist locker schaffen, den Wehrdienst zu verweigern, es reicht schon, sich als Lusche zu inszenieren. Die Verbände der Kriegsdienstverweigerer empfehlen heute zum Beispiel folgende Argumentation: »Gewalt war nie ein Bestandteil meiner Erziehung. Schon als Kind habe ich es immer vermieden, an gewalttätigen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Nachdem ich solche Filme wie Full Metal Jacket, Apocalypse Now und Der Soldat James Ryan gesehen habe, wurde mir klar, dass ich unter keinen Umständen anderen Menschen mit Gewalt gegenübertreten kann. Außerdem würde ich niemals nachts mit einer meiner weiblichen Verwandten in einen schlecht beleuchteten Park gehen.«
Bei uns in der Sowjetunion hatte man als Christ oder Lusche keine Chance, den Wehrdienst zu verweigern. Nur als Psychopath. Der Wehrpflichtige wurde auch hier stets mit einem dunklen Park konfrontiert, musste dabei aber klare Gewaltbereitschaft ausstrahlen. Und sich dabei möglichst lässig mit einem leichten Grinsen an die Wehrkommission wenden:
»Es war schon immer mein Traum, ein richtiger Soldat zu sein, mit einer richtigen Knarre. Nun möchte ich gern das Maschinengewehr gleich am ersten Tag bekommen, am besten mit drei zusätzlichen Magazinen.«
Wenn man es noch schaffen konnte, mehr oder weniger glaubwürdig über seine enge Beziehung zu Handgranaten zu plaudern, bekam man eine Überweisung zum Psychiater und zwei Wochen stationäre Untersuchung zwischen richtigen Patienten und mit echten Tabletten. Danach war man für den Rest seines Lebens von imaginären Spaziergängen in dunklen Parkanlagen befreit. Seine vermeidliche Aggressivität durfte man dann für immer an den Nagel hängen.
Ich habe diese Chance damals nicht genutzt, weil ich wahrscheinlich Angst vor der eigenen Aggressivität hatte. Sie wurde mit den Jahren nicht geringer. Auch Filme wie Full Metal Jacket konnten mir nicht helfen. Ebenso wenig Rambo, Top Gun, Pearl Harbor, Manhattan Love Story und Nackte Kanone, obwohl der letzte eigentlich ganz in Ordnung war. Ich konnte inzwischen keine amerikanischen Kriegsfilme mehr sehen. Man wurde schon vom Anblick des Filmplakats aggressiv. Jeder Kinobesuch war für mich zu einer Herausforderung geworden. Allein schon dieser AOL-Werbeträger vorab:
»Also Leute, der Film fängt an, jetzt anfangen zu fummeln und die Handys ausmachen. Ist das dein Handy? Ich mach dich platt!«
Das machte mich rasend! Ich versuchte, diese unangenehmen Gefühle zu unterdrücken, indem ich die Augen schloss und mir vorstellte, ich würde durch einen dunklen Park gehen. Und mir käme der AOL-Werbeträger entgegen …
Also Leute: Das ganze Leben ist ein dunkler Park. Dort auf den Bäumen sitzen Mütter, Großmütter und Geschwister, die es nicht rechtzeitig geschafft haben, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen. Sie warten, bis es wieder hell wird. Mindestens ein Christ, eine Lusche und ein Psychopath sind dort immer unterwegs. Das Böse lauert hinter jedem Busch.
»Ist das dein Handy?«
»Ja, das ist mein Handy, du Pisser!«
Sie schleichen immer weiter durch den Park. Es ist kalt, es ist dunkel, sie haben sich ein wenig verlaufen, sie haben ein wenig Angst, geben es aber niemals zu.
Berliner Kaninchen
Oft kommt der Mensch in den Besitz von Dingen, die er gar nicht haben will. Neulich fuhr unsere Freundin Katja mit ihrem Freund zu einem Bummel durch die
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