Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Du schlechte Laune hast, tu so, als wärst Du bester Stimmung.
Stell einer Zweijährigen nie eine Frage, auf die sie mit »Nein« antworten kann.
Freunde Dich jedes Jahr mit mindestens einem Menschen an.
Beurteile die Leute nicht danach, welches College sie besucht haben.
Wenn Du Dir nicht sicher bist, streiche Deine Wände in der Farbe von Vanilleeiscreme.
Vergiss nie, dass ein Big Mac 24 Gramm Fett hat.
Bewahr Dein Parfüm im Kühlschrank auf.
Und so weiter. Die Liste deckte jeden Bereich des banalen Alltagslebens ab – Frisuren, Freunde, Diäten, Hautpflege und, natürlich, Inneneinrichtung und Dekoration – und endete schließlich:
50. Und am wichtigsten, Annabel: Wappne Dich. Gott gibt jeder
Frau ihre eigene besondere Handtasche voller Chancen. Ob Du glücklich oder traurig bist, hängt nur davon ab, ob Du Deine Zeit mit Neid und Kleinlichkeit verschwendest. Tu’s nicht. Lerne das Glück zu erkennen, wenn es Dir winkt. Manchmal versucht das Universum verzweifelt, Dir eine Nachricht zukommen zu lassen. Ganz egal, was das Leben für Dich bereithält, rapple Dich immer wieder auf, Annie-Belle, sei zäh. Selbstmitleid ist die reine Verschwendung, und das Leben ist auch ohne kurz genug. Wenn Dir etwas Schlechtes widerfährt, bleib standhaft und denk an all die schönen Dinge, die noch vor Dir liegen …
Doch für Molly Divine Marx gibt es nichts mehr, was noch vor ihr liegt. Das ist zu viel für meine Eltern. »Halt, Barry«, sagt mein Vater. »Es ist genug.«
»Wisst ihr«, spricht Barry ungeduldig weiter, »was ich so unheimlich finde … Glaubt ihr, Molly … wusste, dass sie sterben wird?«
»Du meinst so, wie man manchmal an jemanden denkt, und der ruft in dem Moment an?«, fragt meine Mutter. »Dieses seltsame Gefühl?«
»Nicht ganz. Wenn ich diesen Brief lese, bei dem Molly sich offensichtlich so viele Gedanken gemacht hat, dann frage ich mich … etwas anderes.«
Schweigen breitet sich wie ein Leichentuch über Highland Park und Manhattan aus.
»Glaubst du wirklich, dass unsere Tochter sich das Leben genommen hat?« Mein Vater bekommt die Worte kaum heraus. Er könnte nicht empörter sein, hätte Barry mich des Kindesmissbrauchs bezichtigt.
»Das ist einfach grotesk.« Meine Mutter ist bemüht, ihren Schwiegersohn, der doch selbst auch trauert, nicht anzuschreien. Sie kann das Wort
Selbstmord
nicht einmal denken. Ich liebe meine Eltern dafür, wie sie mich verteidigen. »Du hast mit unserer Tochter zusammengelebt, sie war ein Sonnenschein, puresGold. Gibt es vielleicht irgendetwas, das du uns zu sagen hast?«
Gibt es nicht.
Hast du unsere Tochter unglücklich gemacht?
Diese Frage geht ihnen beiden durch den Kopf und sickert unausgesprochen durch die Telefonleitung bis zu Barry.
»Hast du Lucy schon angerufen?«, fragt meine Mutter.
»Wollt ihr das nicht lieber tun?«, fragt Barry.
»Wir rufen sie an, um sie vorzuwarnen, aber du bist der mit dem Brief«, erklärt mein Vater. »Sie sollte hören, was darin steht.«
Stimmt, selbst wenn meine Schwester über meine banalen Weisheiten sicher lacht.
Barry verabschiedet sich und steckt den Brief in die linke Innentasche seines Sportjacketts. Der Brief ist so lebendig für ihn, wie ich tot bin, er schreit förmlich nach Aufmerksamkeit. Fünf Minuten später sitzt Barry in einem Taxi und fragt sich, wen er zuerst anrufen soll, Lucy oder Hicks. Da klingelt sein Handy.
»Eins wollen wir gleich klarstellen – meine Schwester hat sich nicht umgebracht«, sagt Lucy in dem coolen, leisen Ton eines Vorstandsvorsitzenden, der kurz davor steht, sich ein anderes Unternehmen einzuverleiben. »Keine Ahnung, wie du auf den Gedanken kommst. Die Theorie ist mehr als dämlich. Sie hätte nie Selbstmord begangen. Völlig ausgeschlossen.«
Ja, bitte mach Barry das klar, Lucy! Ich sehe, dass sie mit dem Auto in die Arbeit fährt und über die Freisprechanlage telefoniert.
»Was immer du da gefunden hast, ich will es sehen. Umgehend.«
Molly war ein sentimentales Huhn,
denkt Lucy.
Wahrscheinlich ist das einer dieser ernsthaften Briefe, die eine Mutter kurz nach der Geburt ihres Kindes schreibt und dann wieder herausholt, wenn das Kind seinen Highschool-Abschluss in der Tasche hat. Und die Idee stammt vermutlich aus irgendeiner Frauenzeitschrift.
Fast, Lucy. Den Brief habe ich geschrieben, als Annabel drei wurde. Ich wollte ihn ihr zur Bat-Mizwa schenken oder zur ersten Periode, je nachdem, welches Initiationsritual früher kam.
»Weißt du,
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