Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Lucy, dieser Brief ist keiner, den man mal eben schnell faxt.« Will sie das, quasi als Beweis dafür, dass er echt ist? Barry möchte nicht sarkastisch werden, auch wenn das seine automatische Reaktion bei jedem Gespräch mit seiner Schwägerin ist. »Einen Absatz lese ich dir jetzt gleich vor.
Ich habe immer gehofft, dass Du eines Tages einen Bruder haben würdest. Doch ich will Dir ein Geheimnis verraten. Vor Deiner Geburt habe ich zu Gott um ein kleines Mädchen gebetet, und genau das würde ich wieder tun, denn ich habe selbst eine Schwester, und es gibt nichts Wundervolleres auf der Welt.«
»Barry!«, schreit Lucy, als sie ins Schleudern gerät und einem entgegenkommenden Wagen ausweichen muss. »Hör auf! Sonst baue ich einen Unfall. Das würde meinen Eltern gerade noch fehlen, zwei tote Töchter!«
»Ich schicke dir und deinen Eltern per Eilpost Kopien des Briefs – die habt ihr morgen«, sagt er fast freundlich. »Und ich sollte Hicks davon erzählen. Einverstanden?« Es ist ihm egal, was sie meint, er hat die Entscheidung bereits getroffen.
Aber Lucy wird gern gefragt. »Das solltest du tun«, sagt sie. Tränen tropfen auf ihre Jacke. »Dann reden wir später, wenn der Brief da ist, ja?«
»Tun wir«, erwidert Barry. Sein Taxi kommt an einem Blumenladen vorbei, der große Töpfe mit blauen Hortensien verkauft. Ich habe unsere Wohnung stets mit diesen Blumen geschmückt, sobald der Frühling kam.
Das ist ein Zeichen,
sagt er sich.
Mach schon. Frag.
Einen Moment denkt er an den Vorfall mit Lucy vor Annabels Kindergarten, der ihn immer noch wütend macht, obwohl Lucy sich inzwischen in einem Brief tief zerknirscht bei ihm entschuldigt hat. Barry fragt sich, ob er langsam den Verstand verliert und demnächst von seiner Mutter in eine Anstalt eingewiesen werden wird. Doch er sagt: »Lucy, ich möchte dich um einen Gefallen bitten …«
Lucy wappnet sich gegen eine Gemeinheit.
Nein, ich lass mich nicht verarschen,
denkt sie.
Warum bin ich überhaupt so höflich zu Barry? Der Typ ist doch ein Ekelpaket.
»Könntest du nach den Feiertagen vielleicht nach New York kommen? Es wird Zeit, dass jemand Mollys Sachen durchgeht. Ich selbst kann das einfach nicht.«
Und Molly wäre empört, wenn ich meine Mutter darum bitten würde. Nachdem du jetzt monatelangen Hausarrest bei deinen Eltern abgesessen hast, reicht es, und ich kann dich darum bitten,
denkt Barry.
Du brauchst mich,
denkt Lucy.
Aber noch wichtiger ist, meine Schwester braucht mich.
Und schon ist der Augenblick für eine schnippische Antwort dahin. »Ich werde kommen.«
36
Aufrichtige Bekenntnisse
Ich sehe Barry auf einer mit kastanienbraunem Samt bezogenen Bank Platz nehmen. »Was hältst du von all dem?«, frage ich Bob, der noch nie einen Gottesdienst zu Jom Kippur besucht hat. Er mag Bagels und Billy Crystal und sagt auch mal Maseltow, aber sehr viel mehr hatte er mit dem Judentum nie zu tun.
»Warum ist es hier nicht voller? Wieso sind so viele Plätze frei? Wer bei
uns
sein Glaubensbekenntnis ernst nahm, wollte nicht nur ein einziges jämmerliches Mal im Jahr sein Gewissen erleichtern gehen. Wir hätten um den Block herum Schlange gestanden und uns hier gestapelt, um unsere Sünden loszuwerden.«
Ich hätte Bob lieber gestern Abend mitnehmen sollen, als es hier Sündenbekenntnisse nur so hagelte und sich elf Leute in Bänken drängten, die nur für acht gedacht sind. Fast jede Seele hatte einen Striptease bis auf die Unterwäsche hingelegt, in verschiedenen Abstufungen von Aufrichtigkeit und Reue natürlich.
»Du wirst schon sehen – im Laufe des Tages füllt es sich noch.« Ich sehe zu Barry hinüber, der allein und einsam dasteht und versucht zu beten. Ich wüsste gern, wofür.
»Die Sünde, die wir vor Dir begangen, gezwungen oder willentlich«,
intoniert Rabbi Strauss Sherman in seinem Himmels-Express-Dröhnen . Ehrfürchtig lauschen die Betenden der religiösen Formel.
»Die Sünde, die wir vor Dir begangen, hartherzig … unachtsam … mit Worten … in unsittlichem Tun … offen oder im Verborgenen … in Kenntnis oder in Unkenntnis …«
All diese Sünden, Gott der Vergebung, verzeih uns, vergib uns, nimm von uns.«
Der Rabbi hat die Worte kaum ausgesprochen, da wiederholt der unsichtbare Chor sie noch einmal überschwänglich – für den Fall, dass irgendwer was verpasst haben sollte.
Vergib mir,
betet Barry.
Verzeih mir.
Wie einst mein Grandpa Louie und all seine männlichen Vorfahren ist er in einen
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