Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
seidenen, blaugestreiften Tallit gehüllt, entschlossen, Gottes Aufmerksamkeit zu erringen.
Gestern nach dem Abendessen bei Kitty – Matzeklößchen in goldgelber Hühnerbrühe, würzige Gefilte Fisch, erstklassige Rippchen, gebackene Kartoffeln so groß wie Annabels Schuhe und ein gigantischer Apfelkuchen – hat Barry mit dem Fasten begonnen. Eine neue Erfahrung für ihn. Sein Magen ruft bereits »Füt tere mich«, und weil er sich nicht über ein paar Tage hinweg das Koffein abgewöhnt hat – mein Geheimrezept –, leidet er jetzt unter Kopfschmerzen. Ich weiß auch nicht, warum unsere Vorväter meinten, diese besondere körperliche Tortur würde einen Menschen in die richtige Stimmung zum Beten versetzen. Vielleicht gibt’s hier in der Ewigkeit ja irgendwen, der mir das mal erklären kann.
Ich habe Barry oder mich nie als religiös betrachtet. Auch wenn er vor kurzem Vorstandsmitglied der Gemeinde wurde und wir ab und zu mal einen Gottesdienst besucht haben, sind wir meistens freitagabends ins Kino gegangen, hübsch geflochtene Challa-Brote haben uns weniger interessiert. Seit meinem Tod hat Barry jedoch – zusammen mit anderen Trauernden – am Schabbat in der Synagoge aus der Tora gelesen und hat Annabels Kindergarten eine großzügige Spende zukommen lassen. Und so gibt’s im fünftenStock des Gebäudes jetzt einen gut ausgestatteten Molly-Divine-Marx-Zeichensaal, dessen Herzstück ein Aquarium mit Hunderten von Molly-Zierfischen in bunten Cocktailfarben ist – Golden Cadillac, Campari Orange und andere Schattierungen, plus hier und da einer wilden Molly in schrillem Neongrün.
»Willst du Big Molly mal sehen?«, frage ich Bob, erpicht darauf, Barrys allzu deutlichem Unbehagen zu entfliehen – und meinem eigenen. Ich verliere mich oft in ihren Anblick und stelle mir zu gern vor, dass ein winziger Teil meiner Seele in diesem molligen Weibchen und ihren Hunderten von Fischbabys existiert.
»Später«, sagt Bob und macht es sich gemütlich.
»Die Sünde, die wir vor Dir begangen, durch Verleugnung und Lügen«,
fährt der Rabbi fort.
Bob wirft mir einen auffordernden Blick zu. Vielleicht hat Bob ja selbst irgendwelche Sünden zu bekennen – seine Gedanken kann ich nicht lesen, und er spricht selten über sich. Doch ich fürchte, er will eher mich dazu bringen, selbst einige Sündenbekenntnisse abzulegen. Schließlich habe ich reichlich Übertretungen, Bosheiten und moralische Verfehlungen zu bieten. Dafür muss ich doch auch haftbar zu machen sein.
Der Rabbi ist bei der Sünde des »Spottens« angekommen. Mal überlegen. Nein. Hohn und Spott war nicht mein Ding.
»Die Sünde, die wir vor Dir begangen, durch Hochmut.«
Da fällt mir sofort Kitty ein. Wo ist diese Frau überhaupt? Glaubt sie etwa, sie hätte keine Vergebung nötig? Und was ist mit der ebenfalls fehlenden Stephanie, die doch sicher ein Mitglied der Synagoge ist, in deren Kindergarten ihr Sohn geht? Meint sie wirklich, sie wäre sündenlos durchs letzte Jahr gesegelt? Na los, fangen wir mal an zu zählen. Aber der Gedanke an diese beiden vergrößert bloß noch meine eigenen Verfehlungen, zumal Rabbi Strauss Sherman jetzt in Molly-Territorium vorstößt.
Meine eigenen Sünden sind so mannigfaltig wie Bakterien auf einem Badeschwamm. Mein Geist taucht in Barry hinein. Vielleicht können wir Gott im Team um Vergebung anflehen, stärkermiteinander vereint, als wir es je waren. Barry betet inständig und mit einer Anspannung im Gesicht wie sonst nur bei Klimmzügen, und er tut sein Bestes, um den Großen Kerl auf sich aufmerksam zu machen. Ich hab’s vermasselt, denkt er. Molly ist tot, und ich bin schuld. Schuld, schuld.
»Und die Sünde, die wir vor Dir begangen, durch Herzensverwirrung.«
Herzensverwirrung? Ja, Gott, hier! Gehörte das schon immer in die Liturgie, oder hast Du das extra für mich eingefügt? Ich warte immer noch darauf, Dir hier in der Ewigkeit zu begegnen, ich habe es noch nicht aufgegeben. Darauf kannst Du wetten, dass mein Herz verwirrt war – und ist. Völlig verwirrt. Ob ich irgendwas bedauere? Werden im Stadion der New York Yankees Erdnüsse verkauft? Vielleicht hätte ich Barry nicht heiraten oder mich bald wieder von ihm trennen sollen, nach der Hochzeit oder sogar schon vorher. Aber dann gäbe es Annabel nicht, und wie kann ich die Existenz meines Kindes bedauern? Ich weiß, dass Du wolltest, dass es Annabel gibt. Weshalb ich auch glaube, dass Barry und ich hätten lernen können, bis ans Ende
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