Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
obersten Schublade – BHs – und arbeitet sich nach unten vor. Damit erst gar kein Gefühl aufkommt, sortiert sie rasch. Die Dessous einer anderen Frau durchzusehen, ist, als läge man mit ihr zusammen im Bett, während sie Sex hat. Nach kaum einer Stunde hat Lucy die unterste Schublade erreicht, wo sie das Flanellnachthemd findet, das sie mir in meiner Schwangerschaft geschenkt hat. Obwohl sie selbst keine Freundin von Kätzchen mit Schnurrhaaren ist, streicht Lucy sanft über die zarte Lochstickerei rund um die Passe. Das, beschließt sie plötzlich, wird sie selbst behalten.
Sie schüttelt das Nachthemd aus. Aus den voluminösen Falten flattert ein Schwarz-Weiß-Foto auf den Teppich und bleibt mit der Rückseite nach oben liegen.
Irgendwann einmal hatte Luke ein Stativ aufgestellt, und wir haben wieder und wieder zusammen posiert. Dieses Foto ist das einzige, das ich aufgehoben habe. Meine Augen sind geschlossen und ich lache, keine besonders schmeichelhafte Pose. Aber was das Foto so schön macht, ist Luke, der mich mit einem Blick reinster Zärtlichkeit betrachtet. Nur ich weiß, wie blau diese Augen sind,doch auch jeder andere kann sehen, dass sie voller Liebe sind. Auf die Rückseite habe ich »November« geschrieben. Lucy erkennt an meinem Haarschnitt, dass der eingefangene Moment aus einem der letzten Jahre stammen muss.
Sie fröstelt. Ihr Atem geht stoßweise. Lucy starrt das Foto an und berührt mein Gesicht, als würde sie mir über die Wange streichen. »Herrgott, Molly«, flüstert sie. »Wie dämlich kann eine Frau sein? Wer immer dieser verdammte Kerl auch ist – wenn du ihn geliebt hast, warum hast du deinen Mann dann nicht verlassen? Und wenn du Barry geliebt hast, warum hast du dann dieses Foto in deiner Kommode aufbewahrt?«
Meine Schwester. Wo sie recht hat, hat sie recht.
Lucy versucht, die Gesichtszüge des Mannes auf dem Foto zu deuten.
Dieser Typ liebt dich,
denkt sie.
Und du hast wahrscheinlich dasselbe für ihn empfunden.
Dann wischt sie sich eine Träne ab, steckt das Foto rasch in die Tasche, schnürt den letzten Kleidersack zu und verlässt das Zimmer.
38
Dumm gelaufen
Hicks’ Büro ist nichts Besonderes – ein Holzboden, der nie mit einer Versiegelung geflirtet hat, flimmernde Neonleuchten und ein Stahlrohrschreibtisch mit einer solchen Delle, dass man sich fragt, ob mal dagegengetreten wurde. (Ja.) Er sitzt in einem Holzdrehstuhl, in dem er sich, zum Ärger seiner Bürokollegin Detective Gonzalez, gedankenverloren – und quietschend – hin und her dreht, während er seine Pinnwand betrachtet. Mein Schrein, wie ich sie gern nenne, denn dort ist alles angepinnt, was meinen Fall betrifft, samt Fotos von Barry, Lucy, Kitty, meinen Eltern, Brie,Isadora, Barrys Sprechstundenhilfen (darunter auch die Schleimerin, die stets flötete: »Da wird Dr. Barry Sie zurückrufen müssen«) und außerdem noch eine ganze Horde austauschbarer Frauen, vermutlich alles Patientinnen. Eine davon ist Stephanie, andere erkenne ich von der Beerdigung und Schiwe, der Rest sind lauter mehrfach instandgesetzte Fremde. Das Herzstück dieses heiligen Meisterwerks ist eine Karte, die Hicks selbst gezeichnet hat – gar nicht mal so schlecht –, mit dem Weg von meiner Wohnung bis zu meiner vorletzten Ruhestätte. Ein X markiert die Stelle, an der mein Leben endete, und diese Stelle ist es, über die Hicks jetzt laut nachdenkt.
»Hat jemand Sie umgebracht oder haben Sie’s selbst getan? Erzählen Sie’s mir, schöne Lady.«
Wenn ich das nur könnte. Detective Gonzalez denkt genau dasselbe. Sie hat es satt, dass Hicks dauernd Fragen in den Raum wirft, der nach abgestandenem Kaffee, Senf und jeder Menge Überstunden riecht. »Hi, redest du mit mir?«, murmelt sie. Georgia Gonzalez mag so feinfühlig wie ein Hockeyspieler sein, aber sie hat einen Instinkt, dem Hicks genauso traut wie dem eigenen – wenn nicht mehr.
»Tut mir leid, GG. Ich wollte dich nicht bei der Lösung deiner Wirklich Wichtigen Fälle stören«, erwidert er. »Heute schon irgendwelche Drogenbosse eingelocht?«
»Nie und nimmer hat sich diese Frau umgebracht.« Detective Gonzalez hat meinen Brief gelesen, ist darüber fast in Tränen ausgebrochen – schließlich ist sie selbst Mutter – und hat Hicks sofort erklärt, dass das keinesfalls der Abschiedsbrief einer Selbstmörderin ist.
Es hat einige Tage gedauert, bis Hicks zur selben Schlussfolgerung gelangt ist. »Nein, ich glaub auch nicht an einen
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