Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
klafft ein Canyon, da, wo ich sonst war. Sie überdenkt diese Frage, während sie ihren Salat aufisst.
»Es wird dir auch passieren, Lucy«, sagt Brie. »Das weiß ich.« Sie hat die Worte kaum ausgesprochen, da erkennt sie, dass meine Schwester sie als herablassend auffassen wird. Sie hat einen Fluss durchwatet und am anderen Ufer einen Grizzlybären angetroffen.
»Ja, klar«, grummelt Lucy.
»Hast du noch Zeit für einen Kaffee?«, fragt Brie.
»Nein, leider nicht«, sagt Lucy und winkt dem Kellner. »Ich habe noch längst nicht alles gesichtet. Und viel Zeit habe ich nicht mehr, bis Annabel zurückkommt.«
»Soll ich dir helfen?«, fragt Brie. »Ich könnte meine Nachmittagstermine absagen.«
»Ich hab’s im Griff.« Lucys Miene wirkt wieder verschlossen.
Brie holt ihr Portemonnaie heraus. »Ich lade dich ein.«
»Auf gar keinen Fall«, sagt Lucy, legt vier knisternde Zehner hin, steht auf und zieht sich ihre Jacke an. »Das geht auf mich. Aber einen Gefallen könntest du mir tun.«
»Gern«, erwidert Brie.
»Richte deinem neuen Freund von mir aus, dass er endlich den Mörder meiner Schwester finden soll.«
Am nächsten Tag bringt Lucy sieben Kleidersäcke voller Mollyabilien in den Secondhandladen, nun bleibt nur noch meine Kommode. Am Nachmittag weigert sich Annabel, zum Spielplatz zu gehen, weil sie weiß, dass ihre Tante Lucy da ist. Widerwillig schaut Delfina in ihrer Kammer die ›Oprah Winfrey Show‹, jedoch nicht ohne alle zehn Minuten einen Blick auf meine Schwester und meine Tochter zu werfen, die zusammen ›Nemo‹ schauen.Lucy badet Annabel, liest ihr eine Gutenachtgeschichte vor, und gerade als unsere Tochter einschläft, kommt Barry nach Hause.
»Es ist nett, dass du dich um all das kümmerst«, sagt er, als er zwei Gläser Wein einschenkt. »Wie kommst du voran?«
»Morgen sind die Ausgrabungsarbeiten abgeschlossen«, erwidert Lucy.
»Irgendwelche seltenen Funde?« Barry stochert im Kaminfeuer, und die Flammen lodern auf wie zum Gruß.
»Eigentlich nicht, mal abgesehen von einem grünen Krokogürtel – was vermutlich heißt, dass ich in die Steinzeit vorgedrungen bin oder zumindest bis in die frühen achtziger Jahre.« Meine Swatch-Armbanduhr will Lucy behalten, weil sie selbst die gleiche vor Jahren verloren hat.
Lucy späht zu Barry hinüber, der ins Feuer starrt. Sie ist ihm noch etwas schuldig, das weiß sie. »Wegen dieser blöden Sache in Annabels Kindergarten – ich war völlig durchgedreht. Ich weiß, das habe ich dir schon geschrieben, aber ich muss es einmal laut aussprechen. Es tut mir sehr leid – doch es geschah aus Liebe, aus fehlgeleiteter Liebe zwar, aber –«
»Ach«, sagt Barry und schenkt sich nach, »ist schon vergessen.« Beinahe.
Er möchte nicht darüber reden. Er ist schon den ganzen Tag in Östrogen mariniert worden. Heute Nachmittag hatte er ununterbrochen Beratungssprechstunden, deren Höhepunkt der Streit einer Fünfzehnjährigen mit ihrer Mutter war. Mrs. Pixie bestand auf eine Nasenform, die ihre Verwandtschaft mit Miss Pixie betonte. Danach hat Stephanie ihn abgekanzelt, weil er eine Verabredung zum Dinner vergessen hatte, die sie angeblich fest für heute Abend ausgemacht hatten. Und sogar seine Sprechstundenhilfe hat ihn angesehen, als wäre er Dr. Mengele. Barry würde sich den Wein am liebsten gleich intravenös zuführen. Er bietet Lucy noch ein Glas an, doch sie lehnt ab. Mit einem langen Blick sieht er seine Schwägerin an, deren aufrechte Haltung ihre üppige Oberweite so richtig zur Geltung bringt.
Lucy spürt diesen Blick. »Zeit, zu gehen«, sagt sie unvermittelt. »Wir sehen uns morgen Abend.« Das werden sie nicht, denn ihr Rückflug geht am Nachmittag. Sie will sich falsche Sentimentalitäten zum Abschied ersparen.
Am nächsten Morgen steht Lucy vor meiner hohen Kommode, deren Schubladen sorgfältig mit blasslila Papier ausgelegt sind, das schon vor langer Zeit seinen Fliederduft verloren hat. Für eine viktorianische Frau, die ein Unterkleid, zwei Unterhosen, ein Korsett, fünf Bänder und eine Haube besaß, war diese schmale Kommode sicher sehr praktisch. Vollgestopft mit Slips, BHs, Stringtangas, Seidenstrümpfen, Socken, Nachthemden und irgendwelchem Sexspielzeug war sie nicht ganz so praktisch, aber ich liebte das glänzende Walnussholz mit den geschnitzten Blumen, und vor allem den verzogenen Spiegel, der mir den Luxus bot, dass ich mich an schlechten Tagen darin kaum erkennen konnte.
Lucy beginnt mit der
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