Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
aufgehübschten Seen und Gondeln, der grünen Schafweide und dem Zoo, der neurotische Eisbären beherbergt. Selbst die Bewohner, die in der Nähe leben, gehen nur selten in den Riverside Park, das magere Stiefkind, das ebenfalls vom großen Meister Frederick Law Olmsted entworfen wurde. Zwar haben sich hier Meg Ryan und Tom Hanks in › E-Mail für Dich‹ an einem der Blumenbeete getroffen, doch der Riverside Park ist völlig unspektakulär. Hier sind vor allem Radfahrer, Läufer und Spaziergänger mit Hunden anzutreffen, es ist ein Park für einen kurzen Ausflug, keiner, wo man einen ganzen Tag verbringt.
Lucy läuft einen überwucherten Weg oberhalb des einsam daliegenden Hudson entlang, wo ein eisiger Wind vom Wasser heranfegt und ihr die Wangen rötet. Die langen Bänder ihrer Wollmütze wehen im Wind wie Heidizöpfe. Hier scheint es zehn Grad kälter zu sein als auf dem Broadway. Wer immer um diese frühe Uhrzeit unterwegs ist, bewegt sich rasch fort, auf zwei Beinen oder auf vier.
Zwei goldbraune Retriever flitzen an ihr vorbei. Ihr Herrchenfolgt schon bald und bleibt kurz stehen, um auf die Armbanduhr zu sehen. Schon neun vorbei, jene magische Stunde, zu der Hunde wieder an die Leine müssen, wenn ihre Besitzer nicht ein Bußgeld riskieren wollen, von dem man locker ein anständiges Dinner für zwei bezahlen kann. »Sigmund«, ruft der Besitzer. »Hamlet. Bei Fuß.« Die Hunde hören nicht – vielleicht sind ihnen ihre Namen peinlich. Sie rennen zu Lucy, die ihnen die flauschigen Köpfe streichelt und sie zur Begrüßung hinter den Ohren krault.
»Da seid ihr«, sagt der Mann und greift nach den Hunden, als der größere an Lucy hochspringt, um ihr das Gesicht abzuschlecken, und der andere nach einem ihrer Mützenbänder schnappt.
Ein Hundebesitzer dürfte ungefährlich sein, entscheidet Lucy. »Können Sie mir sagen, wie ich an den Fluss hinunterkomme?« Sie zeigt Richtung George Washington Bridge, die in einiger Entfernung schimmert wie eine Kette grauer Mallorcaperlen.
»Sicher«, sagt der Mann mit einem offenen Lächeln. Er ist genau der Typ, der Lucy gefallen könnte – verwuscheltes Haar, breitschultrig, kein Markenlabel weit und breit, außer der Yankees-Kappe, und unter dem Arm der Sportteil der ›New York Times‹. Professor an der Columbia oder Psychoanalytiker, schätze ich. Von beidem gibt es in dieser Gegend mehr als genug. »Mal sehen. Sie müssen ein paarmal abbiegen.« Er streicht sich über den Bart, während er Lucy in die Augen sieht. Seine Augen sind grün, sein Akzent klingt australisch und sein Ton fröhlich. »Ich könnte Ihnen den Weg zeigen.«
Ich gehe davon aus, dass er geschieden ist. Seine Kinder sind dieses Wochenende bei ihrer Mutter, und vor ihm liegt ein freier Tag, an dem er Rippchen in Blutorangensaft und Kräutern der Provence schmoren wird, während er einen Châteauneuf-du-Pape trinkt, die Samstagnachmittags-Übertragung aus der Oper hört und eine dickleibige Biografie über Winston Churchill liest. Lucy, kauf dieses Lotterielos! Ich mach mir Sorgen um dich, andauernd, und diesem Hundebesitzer steht »guter Kerl« quer über die Stirn geschrieben.
Wenn ich nur wüsste, wie man flirtet,
geht es Lucy durch den Kopf.
Andere Frauen treffen überall Männer. Und ich? Nie. Aber der Typ ist gar nicht übel. Er hat intelligente Augen, und mir gefallen seine Hunde, und sein Lesestoff.
Und, lässt meine Schwester sich nun den Weg zeigen? »Das ist nicht nötig«, lautet ihre Antwort.
»Chicago«, sagt der Mann und lächelt wieder, diesmal noch herzlicher, zwischen den Schneidezähnen hat er eine schmale Lücke. Er weiß, es ist verrückt, aber was wäre, wenn diese Frau mit ihm einen Kaffee trinken ginge? Er mag ihr Gesicht, ganz ohne Make-up oder sonstige Attitüde. Sie könnten reden, ins Kino gehen vielleicht, in einer Buchhandlung stöbern und dann, wer weiß?
» Chi-caw-go,
ja. Woher wissen Sie das?« Wie alle aus dem Mittleren Westen glaubt auch Lucy, dass jeder andere einen Akzent hat, nur sie nicht.
»Ich habe dort studiert«, sagt er und wartet, dass Lucy die Plauderei aufgreift. Aber ein Mann müsste »Ich versuche dich abzuschleppen« an den Himmel schreiben, damit sie bemerkt, dass er sie attraktiv findet.
»Gute Uni«, sagt sie, endlich.
Soll ich ihm erzählen, dass ich nur zwei Meilen von Hyde Park entfernt wohne? Nein. Wieso sollte ihn das interessieren?
»Also, wenn Sie mir einfach die Richtung zeigen.«
Er tut es und verflucht sich selbst –
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