Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
hatte?
»Zeit, weiterzugehen«, flüstert Bob.
»Wovon redest du da?« Erst gestern habe ich Annabel ihr erstes krakeliges A schreiben sehen, das windschief wie ein Hexenhaus dastand. Ich war dabei, als Brie und Hicks einen Wagen mieteten, um zu einem Landgasthof zu fahren. Sie wollen Schneeschuh laufen, das heißt, wenn sie mal aus dem Bett herauskommen. Ich habe nach meinem Vater gesehen, der bei seinem Gesundheitscheck war – er muss ein Medikament zur Cholesterinsenkung nehmen, doch sein Blutdruck ist okay. Ich habe zugesehen, wie meine Mutter eine Quitte in Pflanzerde setzte, die von samtigem Moos überzogen war – sie hofft, den Frühling dieses Jahr vor der Zeit herbeilocken zu können und schon bald mit zarten weißen Blüten belohnt zu werden. Und ich habe mich sogar zu Barry und Stephanie und Tausenden anderen Basketballfanatikern gesetzt und mir ein Spiel der New York Knicks angesehen, bis es mir reichte – wenn ich mich quälen will, gibt’s ja immer noch das Parlamentsfernsehen mit seinen Live-Berichten aus dem Kongress.
»Du musst dich fragen, ob deine Fähigkeiten dir selbst guttun, Molly«, sagt Bob. »Die Sehnsucht nach einem Leben, das vorüber ist, das Beobachten von Menschen, die sich lieben, Schokoladenkekse backen, Fehler machen – muss ich noch deutlicher werden?«
»Aber ich bin noch nicht so weit, das alles aufzugeben. Du hast gesagt, dass unsere Fähigkeiten so lange andauern, wie es nötig ist. Und ich habe sie noch nötig!«
Ich höre meine eigene Angst. Ich hatte vor, abzuwarten und zu beten, dass meine Fähigkeiten … hm, nicht ewig – wer würde das wollen? –, aber wenigstens so lange andauern, bis das Rätsel meines Todes gelöst ist und – noch wichtiger – bis Annabel erwachsenist. Aber wann ist das heutzutage so weit? Wenn sie aufs College geht, einundzwanzig wird, das Studium abschließt, zu arbeiten beginnt, in ihre eigene Wohnung zieht, heiratet, ein Kind bekommt? Ich will nicht gehen, nirgendwohin, und schon gar nicht jetzt.
»Dass du bestimmte Fähigkeiten hast, bedeutet nicht, dass du sie auch einsetzen musst«, sagt Bob und klingt ganz wie der Kinderarzt, der er einst werden wollte.
Vielleicht können wir etwas aushandeln. »Okay, sagen wir, ich lege eine Pause ein.« Kein endgültiges Ende, nur eine Unterbrechung. »Wie wäre das?«
»Abgemacht – und ich möchte dich mit jemandem zusammenbringen«, erwidert er. »Ich habe dich beobachtet –«
Ach nein! Glaubt er etwa, er wäre unsichtbar? Bob steht an jeder Ecke, ein Bruder Starbucks der weiten blauen Unendlichkeit. »Wer ist dieser Jemand?«
»Sei nicht so neugierig. Das erfährst du früh genug.« Typisch Bob, immer predigt er Geduld.
Und während ich warte, entschwinden mir die Tage in ein einziges endloses Nichts. Den Ausflug auf den Friedhof Serenity Haven schenke ich mir. Ihr sollt setzen meinen Stein ohne mich. Am meisten Gedanken mache ich mir über Annabel – wie ist das Kindergartenfest gewesen? Kann sie jetzt schon das B schreiben? Hat Delfina ihr die Haare schneiden lassen? Hoffentlich keinen Pony, nicht bei ihren Locken.
Dann driften meine Gedanken ab. Wird Stephanie Barry zu der Venedigreise überreden können, wo er ihr einen Heiratsantrag machen soll? Wird Brie das Sonntagsessen bei Hicks’ Mutter gefallen? Wird Mama Hicks Brie mögen oder entsetzt sein, weil ihr Sohn mit einer Weißen zusammen ist? Wird Isadora versuchen, Brie zurückzugewinnen? Meine Eltern haben ihre Reise nach Japan storniert – werden sie noch irgendwann fahren? Wird Lucy an eine andere Schule gehen? Ihren Futon durch ein richtiges Bett ersetzen? Sich eine Katze zulegen? Wird Kitty den Hautarzt wechseln?
Mit wem ist Luke jetzt zusammen – mit der Blonden, die mir ähnlicher sieht als meine eigene Zwillingsschwester, oder mit dem dünnen, überraschend klugen Model mit den roten Locken und dem rauchigen Lispeln? Wird Hicks meinen Fall lösen, mit oder ohne Hilfe von Detective Gonzalez’ Intuition? Mein altes Leben ist die beste Soap der Welt, auch wenn sie nur einen Zuschauer hat.
Es kostet mich einiges an Willenskraft, nicht schnell mal dort unten vorbeizuschauen. Doch abergläubisch, wie ich bin, halte ich mich lieber an die Abmachung. Denn so interessant es dort unten auch ist, Bob hat nicht nur meine Phantasie angeregt, sondern mich regelrecht beunruhigt. Was, wenn dieser Jemand, den ich treffen soll, aus meinem eigenen Umkreis stammt? Sagen wir mal, Kitty kippt beim Yoga im Handstand um,
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