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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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warum hat er nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt?   –, als er Lucy nachsieht, bis sie nicht mehr größer ist als sein Daumen und ihr violetter Mantel klein wie eine Beere.
    Schließlich erreicht meine Schwester den Fluss. Sie sieht nach New Jersey hinüber, als würde sie dort die Antwort auf die drängendste aller Fragen der Divines finden: Wie ist Molly gestorben? Barry hat, davon ist Lucy überzeugt, auf die Feier zur Steinsetzung morgen gedrängt, um dem elenden Wurde-Molly-gestoßen-oder-ist-sie-gesprungen ein Ende zu machen. Noch immerweht die unausgesprochene, absurde Vermutung nach Chicago hinüber, dass ich meinen Tod selbst verursacht habe. »Molly würde nie so was Idiotisches tun«, schreit Lucy auf den Hudson hinaus. Sie schüttelt den Kopf und stößt einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Lachen und Seufzen klingt.
    Gestern hat sie mit Hicks gesprochen. Was weiß
der
schon? Anscheinend gar nichts, jedenfalls nichts, was er Lucy erzählen würde. Seit Wochen überlegt sie hin und her: Soll sie ihm das Foto zeigen? Ach, hätte sie diese flüchtige Momentaufnahme meiner Untreue doch nie gefunden, diesen Beweis   … wofür eigentlich?
    Wäre dieser mysteriöse Mann in meinen Tod verwickelt, denkt Lucy, hätte die New Yorker Polizei ihn sicher längst aufgespürt und ihm Daumenschrauben angelegt, bis er gesteht. Sie vermutet, dass Hicks von diesem Kerl weiß, ihn aber für unschuldig hält. Warum sollte sie dann also meinen guten Ruf schädigen? Sie will vor allem eines, Annabel beschützen. Und warum sollte ihre Nichte in ihren Eltern je etwas anderes sehen als ein glückliches Paar? Warum nicht wenigstens diese Illusion aufrechterhalten?
    Lucy zieht das Foto von Luke und mir aus der Manteltasche.
Wenigstens siehst du glücklich aus, Molly,
denkt sie.
Ich hoffe, du hast diesen Mann geliebt – und wurdest von ihm wiedergeliebt. Wo immer und wer immer dieser Blödmann auch ist, ich hoffe, er liebt dich immer noch.
    Lucy dreht sich zum Riverside Park um, blickt in beide Richtungen.
Molly, hier irgendwo hast du deinen letzten Atemzug getan – wenn ich nur wüsste, wo genau.
Sie tritt an das Steinufer des Flusses, drückt die Lippen auf das Bild meines lächelnden Gesichts. Soll sie das Foto zerreißen und meine Hälfte behalten? »Nein, ihr zwei gehört zusammen«, sagt sie schließlich und wirft das Foto in den Hudson.
    »Ruhe in Frieden«, murmelt sie. »Ruhe in Frieden.« Und geht in die Knie, legt den Kopf auf die verschränkten Arme und weint.
    Das Foto tanzt auf den Wellen, fließt rasch stromabwärts mit dem schmutzigen Wasser. Lucy hat sich abgewandt vom Hudson,doch mein Blick folgt dem Foto, als wären die Menschen darauf aus Fleisch und Blut – ein Luke, der um sein Leben rennt, ein Mann auf der Flucht.

41
Das ist Sam
    Als das Foto im Hudson versinkt, ist eine Leere in mir, die kein Gefühl ist, denn jedes Gefühl ist ja etwas Lebendiges, sogar – vor allem – wenn es einen vor Kummer und Wut schier zerreißt. Ich aber bin ein Schatten, ein vertrocknetes Blatt, ein runzliger Strunk, ein ausgehöhlter Kürbis. Ich bin eine verlorene Hoffnung, ein gebrochenes Versprechen, eine Erinnerung, ein ungesagter Satz. Mutter Natur hat sich geräuspert, und ich bin   … verweht.
    Ich kann nicht bleiben und zusehen, wie Lucy den Fluss wieder verlässt. Warum hat sie nicht ausnahmsweise einen Funken gesunden Menschenverstand bewiesen, ihre heutige Mission drangegeben und ist mit dem Besitzer von Sigmund und Hamlet Kaffee trinken gegangen, um danach Sex, geschmorte Rinderrippchen und den Rest ihres Lebens mit ihm zu teilen? Sie wären einem Bio-Lebensmittel-Coop beigetreten, hätten Zwillinge bekommen – kleine braunhaarige Jungs   –, einen Louie genannt, nach unserem Grandpa, und einen Jake, weil das Lucys Lieblingsname ist, wären jeden Winter nach Australien und jeden August nach Italien in Urlaub gefahren und hätten glücklich gelebt bis ans Ende ihrer Tage. Lucy hätte die Fußballmannschaft von Louie und Jake trainiert, eine Grundschule geleitet und wäre eine gute und sehr geliebte Ehefrau und Mutter gewesen.
    Ich drehe mich um. Bob steht direkt vor mir. Ich schreie ihn an und trommle mit den Fäusten auf seine Brust. »Was sind die Menschennur für verdammte Dummköpfe! Das Leben hat überhaupt keinen Sinn!«
    »Es ist Zeit«, sagt Bob gelassen und greift nach meinen Handgelenken, um mich zu beruhigen.
    »Zeit wofür?« Gab es irgendeine Pflicht, die ich nicht erfüllt

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