Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Leuchtsticker klebten. In diesem Aufzug war ich wahrscheinlich auch für einen Blinden noch zu erkennen.
Als ich in die Küche ging, klingelte mein Handy. Luke. Ich hätte nicht gedacht, dass er wegen eines letzten Gesprächs so einen Aufstand machen würde.
»Ja?«
»Kannst du reden?«, fragte er.
»Nur kurz.«
»Ich muss dich wirklich sehen.« Er klang wie ein Mann, der beim Arzt unbedingt als dringender Fall vorgezogen werden wollte. »Jetzt, Baby.«
Baby?
Ja, ein selten dämliches Wort, doch wenn Luke es aussprach, stand ich in seinem Bann. Seine Stimme drang in meine Haut wie ein wohltuender Balsam. Dennoch, ich wehrte mich. »Ich sagte doch, nicht heute.«
»Aber ich bin ganz in der Nähe.«
Zufall? Wohl kaum.
»Sag wo«, bat er. »Im Café? Le Pain Quotidien? Wo immer du willst.«
Idiot, dachte ich, meinte aber mich selbst damit. Du brauchst eine Schutzimpfung gegen Luke, wie gegen ein tödliches Virus.
Wenn man davon absieht, dass dir seine Bemühungen natürlich schmeicheln,
hielt die andere Hälfte meines Verstandes dagegen.
Gib’s zu. Stimmt doch.
»Molly, sag was.«
»Das sollte ich nicht tun, Luke«, erwiderte ich langsam. Ich bin eine Alkoholikerin, und du bist das Bier. Ich. Werde. Keinen. Schluck. Trinken. O Gott, für Frauen wie mich sollte es ein Zehn-Punkte-Programm geben, und ich brauchte unbedingt tägliche Treffen während des Entzugs.
»Ich gehe jetzt Radfahren«, sagte ich.
»Wo?«
»Riverside wahrscheinlich. Ist doch egal. Es ist schon zu spät. Aber ich rufe dich morgen an. Dann reden wir.«
»Du rufst mich an einem Samstag an? Wirklich? Du hast mich nie an einem Samstag angerufen.«
So sehr hatte er mich schon durcheinandergebracht. »Dann Montag.«
»Ich kann nicht drei Tage warten, Molly. Wir müssen das jetzt klären.«
»Luke, wir müssen einfach aufhören –« Womit auch immer.
»Nenn mir einen guten Grund.«
»Es macht mich verrückt, dich zu sehen«, schrie ich. »Ich komm damit nicht klar. Ich verachte mich dafür. Ich hasse Frauen wie mich. Ich habe untreue Ehefrauen immer verurteilt und –«
»Liebe ist stärker als Untreue. Ich bin verrückt vor Liebe zu dir. Verstehst du das denn nicht?«
Mein Blick fiel auf einen eingerahmten Schnappschuss von meiner Hochzeit. Barry und ich bei unserem ersten Tanz als Ehepaar. War das der letzte normale Augenblick in meinem Leben, als der Sänger der Band glutvoll ›It Might Be You‹ sang? Gute drei Stunden, ehe ich Barry aus dem Gästebad meiner Eltern kommen sah, gefolgt von dieser Zicke mit dem Glanzlippenstift.
Ich konnte Luke atmen hören, er wartete auf eine Antwort. »Ich bin auch verrückt vor Liebe zu dir«, wäre nicht ganz falsch gewesen, aber ich kam nur bis zu verrückt. »Luke, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Nur, dass das endlich aufhören musste.
»Wie wär’s mit ›Ich liebe dich‹? Denn ich glaube, das tust du.«
An der Wohnungstür hörte ich Schlüssel klappern. Ich wollte nicht, dass Delfina und Annabel mich so sahen, verstört und mit Tränen im Gesicht. »Wir werden reden, versprochen – nach dem Wochenende. Nicht jetzt.«
»Molly – bitte. Nur zehn Minuten. Heute.«
»Tschüs, Luke.« Ich legte auf, wischte mir die Tränen mit Küchenpapier von den Wangen, nahm den Fahrradhelm vom Haken und schlug die Hintertür gerade zu, als vorn die Wohnungstür aufging. »Sie haben Dr. Marx knapp verpasst«, sagte Alphonso, der Pförtner. Wie seltsam, dachte ich. Barry, den ich in diesem Zustand keinesfalls sehen wollte, hatte gar nicht erwähnt, dass er früher nach Hause kommen würde. Hatten wir nicht erst vor einer Viertelstunde telefoniert? Aber darüber konnte ich jetzt einfach nicht nachdenken.
Meine Fahrradschuhe rasteten in der Pedalhalterung ein, und dann fuhr ich los, mit ziemlich hohem Tempo.
Erst als ich schon zwei Blocks weiter war, fiel mir ein, dass ich mein Handy auf dem Küchentisch vergessen hatte.
43
Verdächtige Personen
Ich schaue Hicks beim Öffnen seiner Post zu. Rechnung. Rechnung. Der ›Economist‹, Postkarte vom Augenarzt (»Wie immer Sie’s auch sehen, es ist Zeit für einen Sehtest«), eine Gourmetzeitschrift und eine Einladung zur Hochzeit seines Cousins – da wird er sich wieder einen langen Vortrag seiner Mutter anhören dürfen, das weiß er jetzt schon, immerhin ist sein Cousin elf Jahre jünger als er. Am interessantesten aber ist ein dünner weißer Briefumschlag ohne Absender und mit einer per Computer ausgedruckten Adresse. Auf der
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