Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
den Täter angeht, da draußen laufen so viele Wahnsinnige herum, dass ich gar nicht wüsste, wo ich zu suchen anfangen sollte.«
»Sie glauben also, es war ein Fremder?«
»Ich glaube gar nichts«, erwidert mein Vater. »Die Leute haben ja so ihre Geheimnisse, nicht wahr?«
Meine Mutter sieht ihn an, als wollte sie fragen:
Was für Leute sollen das denn sein?
»Denken Sie an jemand Bestimmten?«, fragt Hicks. Der Detective und ich warten darauf, dass mein Vater den Gedanken näherausführt, doch er schüttelt nur den Kopf. Also macht Hicks mit der nächsten Frage weiter. »Wie würden Sie Ihre Tochter beschreiben?«
Es hätte mich nicht überrascht, wenn ein Geigenquartett aus dem Nebenzimmer gesprungen wäre, um ein von meinen Eltern in Auftrag gegebenes Requiem zu spielen. »Sie wurde geliebt, hatte viele, viele Freunde, war eine gute Ehefrau und eine großartige Mutter«, sagt mein Vater.
Sprechen wir sie doch gleich heilig,
denkt Hicks.
Was ist mit den Fehlern dieser Frau? Wie soll ich danach fragen?
»Gibt es noch irgendetwas anderes, das das Bild abrunden würde?«
Mein Vater blickt ausdruckslos aus dem Fenster, draußen bedeckt langsam eine dünne Schneeschicht den Rasen. »Molly konnte zu vertrauensvoll sein, impulsiv, etwas zerstreut und unsicher, vor allem der Familie ihres Ehemannes gegenüber.« Seine Antwort klingt wie in einem Vorstellungsgespräch, wenn man nach den eigenen Fehlern gefragt wird und mühsam nach Schwächen sucht, die sich möglichst positiv darstellen lassen.
»Was halten Sie von Ihrem Schwiegersohn?«
Er hat Molly nicht so geliebt, wie er es hätte tun sollen,
denkt meine Mutter.
Ein verwöhnter Egoist,
geistert es durch die Gedanken meines Vaters.
Viel zu fixiert auf seine arrogante Mutter.
Doch über ihre Lippen kommt, fast zeitgleich, nur: »Wir haben ihn sehr gern.« Hicks’ Miene macht unmissverständlich deutlich, dass er ihnen das nicht abkauft.
»Na ja, er konnte ein Hitzkopf sein – nicht gerade der Ehemann, den meine Tochter verdient hatte, fand ich. Aber er ist doch kein Mörder«, sagt mein Vater. »Das ist grotesk.«
»Niemand sagt, dass er ein Mörder ist.«
»Nun, Detective, ich glaube das jedenfalls nicht«, erwidert mein Vater. »Soweit ich weiß, ist es nicht illegal, ein Egoist zu sein.« Er erhebt die Stimme. »Es macht einen nicht mal unbedingt zum Soziopathen.« Es hat nur fünf Minuten gedauert, meinen Vater aufzubringen. »Also verschwenden wir hier keine Zeit. Wer hat es Ihrer Ansicht nach denn getan?«
»Mr. und Mrs. Divine«, sagt Hicks gelassen und sieht zuerst meinen Vater und dann meine Mutter an, »wir suchen … überall und überprüfen jeden.« Er spürt, dass sich in seinen Achselhöhlen Schweiß sammelt, und ist froh, dass er ein Jackett trägt. »Und da wir schon dabei sind, wie stand es um Mollys … geistige Gesundheit?«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern sich jemals um etwas anderes als um meine körperliche Gesundheit Gedanken gemacht haben. Ich habe eine Zahnspange getragen und jede vorgeschriebene Impfung bekommen, Unmengen von Vitaminpillen geschluckt und wurde mit Verhütungsmitteln und einem Merkblatt über Chlamydien aufs College geschickt. Meine Mutter und mein Vater stammen aus dem Mittleren Westen, ihre Grundhaltung basiert auf Vorsicht und Optimismus, und in beiden Lagern stehen sie fest mit je einem Bein. Wenn überhaupt, dann haben sie Lucy für die Meschuggene gehalten, nicht mich.
»Hervorragend«, sagt mein Vater. »Mollys ›geistige Gesundheit‹« – nur widerwillig spricht er diese Worte aus – »war mustergültig.«
»Molly hätte sich nie etwas angetan«, fügt meine Mutter hinzu. »Falls Sie darauf hinauswollen. Niemals. Ganz offenbar hat es jemand nicht gut gemeint mit meiner Tochter, doch wenn Sie glauben, sie hätte selbst … Sie wollen das Opfer beschuldigen? Das ist unerhört.« Ihr Gesicht spannt sich an, und ich sehe, dass sich in ihrem sorgfältig aufgetragenen Make-up um den Mund herum feine vertikale Linien bilden. Am liebsten würde ich darüberstreichen und sie wegwischen. »Vielleicht war unsere Tochter nur zur falschen Zeit am falschen Ort, ja, das glaube ich. Ich habe ihr immer gesagt, sie soll dort nicht allein Fahrrad fahren …«
Das hat sie. Und ich habe nie auf sie gehört. Genau wie ich ihren Rat ignoriert habe, Lehrerin zu werden, in Chicago zu bleiben, der zionistischen Frauenorganisation Hadassah beizutreten, Pastelltöne zu tragen und nicht so
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