Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Samtslippern an den Füßen, das blonde Haar mit einer Spange hochgebunden. Doch heute hat sie sich die Haare frisch gefönt, und sie trägt einen wadenlangen schwarzen Wollrock zu flachen, auf Hochglanz polierten Schuhen. Statt ihrer baumelnden Ohrringe aus irgendeinem Kunstgewerbeladen trägt sie Perlohrstecker. Ihr dunkelroter Pullover ist so mütterlich-korrekt, dass ich mich frage, ob sie schnell noch eine Eilorder bei Land’s End in Auftrag gegeben hat, als dieser Termin vor vier Tagen abgesprochen wurde. Ich hoffe, sie hat das Preisschild drangelassen und gibt ihn morgen zurück.
»Detective Hicks«, sagt sie. »Willkommen in Chicago.«
»Danke«, erwidert er und streift sich sorgfältig die Schuhe an der Fußmatte ab. »Tut mir leid – mein Taxifahrer hat den Weg nicht auf Anhieb gefunden.« Er klingt schroff, was aber keine Absicht ist. »Immerhin habe ich so mehr zu sehen bekommen als erwartet. Eine sehr schöne Stadt.«
Kann das noch angestrengter ablaufen,
denken beide. Und mein Vater scheint auch nicht entspannter. »Darf ich Ihnen denMantel abnehmen?«, fragt er, nachdem er Hicks die Hand geschüttelt hat – wobei ein kühler, fester Handschlag auf den anderen kühlen, festen Handschlag traf.
Nimm dich zusammen, nimm dich zusammen,
ermahnt er sich immer wieder.
»Wie gut, dass Sie nicht in den Blizzard geraten sind, der auf dem Weg zu uns ist«, sagt er laut. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wird es aller Voraussicht nach schneien – ein Unwetter, das von Kanada heranzieht. Die Luft ist jetzt schon leicht dunstig.
Lucy, Barry und ich haben meinem Vater zum sechzigsten Geburtstag einen gigantischen Fernseher geschenkt (Barrys Idee), der in dem Zimmer steht, in dem Dad die meiste Zeit verbringt. Er ist ein waschechter Chicagoer – ihm geht nichts über die Basketball-Bulls, die Football-Bears und natürlich die Baseball-Cubs, und erst im letzten Jahr hat er aufgehört, selbst Softball zu spielen, die legendäre Sportart seiner Jugendzeit. Doch an diesem Nachmittag sind die Flügeltüren zu seinem Heiligtum geschlossen, und meine Eltern führen Hicks ins Wohnzimmer, wo ein Kaminfeuer brennt und sanftes Lampenlicht schimmert.
Das Wohnzimmer ist kirschholzgetäfelt und strahlt familiäre Wärme aus; es gefällt Hicks sehr gut.
»Lucy hat angerufen«, berichtet mein Vater. »Die Straßen sind überfroren – sie muss langsam fahren. Wir sollen ohne sie mit dem Essen anfangen.«
Aus der Tiefe springt der Stör …
Zur Feier des Tages hat meine Mutter den Bagel-Laden leergekauft, es gibt nicht nur welche mit Stör, sondern auch mit Weißfisch, Hering und kanadischem Lachs, das volle Programm. Es ist wie in der Schiwe-Woche, nur ohne Sitzkartons, auf denen die Trauernden vorsichtig ihre dicken Hintern platzieren und jedes weitere Stück Gebäck ablehnen aus Angst, die Sitzgelegenheiten könnten unter ihnen zusammenbrechen. Es gibt keine Anstandsbücher darüber, wie man einen Polizisten bewirtet, der den rätselhaften Tod der eigenen Tochter untersucht, und so ist Claire Divinenach eigenem Gutdünken vorgegangen. Gastfreundschaft ist für sie so etwas wie eine Kunstform. Ein New Yorker Detective besucht sie – am Sonntag, nicht am Samstag, denn mein Vater und sie befinden sich in der ein Jahr dauernden Trauerzeit um ein Kind, und der Samstag ist ihr Schabbat, an dem sie in die Synagoge gehen. Also hat meine Mutter einen Sonntagsbrunch vorbereitet, ganz in der Tradition unseres Stammes.
»Ihre Tochter – Molly – hatten Sie Grund zu der Annahme, dass sie unglücklich war?«, beginnt Hicks freundlich, nachdem er sein Beileid bekundet hat und sie sich alle gesetzt haben.
Meine Eltern sehen sich an, um zu entscheiden, wer antwortet. »Soweit wir wissen, war Molly sehr glücklich«, sagt meine Mutter. »Kind, Ehe, ein schönes Zuhause, sogar ein Teilzeitjob – sie hatte alles.« Ihre Stimme klingt schon jetzt heiser. »Was für ein Monster kann das nur sein …«
»Gab es jemanden, der Molly vielleicht Schaden zufügen wollte?«, fragt Hicks.
»Wovon sprechen Sie – von pathologischem Hass und Neid?«, mischt mein Vater sich ein, dessen Lieblingsautor Elmore Leonard ist. »Natürlich nicht. Alle liebten unsere Tochter.«
»Sie glauben also, falls es … ein Verbrechen war, dann handelt es sich bei dem Täter um einen Fremden, der Ihre Tochter nicht kannte?«
»Zuerst einmal, natürlich war es ein Verbrechen«, sagt mein Vater, bemüht, kein
verdammt noch mal
anzufügen. »Und was
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