Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Isabella – okay. Violet, Helen, Hazel, oder Lily natürlich, vielleicht auch Fritzi. Aber nicht Gertrude. Nicht, wenn ich dabei irgendwas zu sagen hatte. Und das hatte ich.
Kitty musterte mich und eine Falte trat zwischen ihre Augenbrauen.»Gertrude als zweiten Vornamen? Oder vielleicht einen anderen Namen, der mit G beginnt? Gracie? Gabriella? Greer?«
Eine Sekunde lang zog ich es in Erwägung. Nein, nicht mal so lange. Denn wie ein Schmetterling kam auf einmal ein anderer Name angeflattert.
Ich klingelte nach der Krankenschwester. »Könnten Sie mir bitte meine Tochter bringen?«, bat ich sie.
Zehn Minuten später, mein Baby schlief in meinen Armen, kehrte Barry zurück, bewaffnet mit Truthahnsandwiches, Schokoladenmuffins, Champagner und Plastikbechern. Ich setzte mich so aufrecht hin, wie mein angeschwollener, strapazierter Körper es mir erlaubte.
»Ich habe euch beiden die Kleine noch gar nicht offiziell vorgestellt«, sagte ich mit diebischer Freude zu meinem Ehemann und Kitty. »Das ist Annabel. Annabel Divine Marx.«
18
Die Familie Divine
»Linden Avenue«, sagt Detective Hicks zum Taxifahrer. »High land Park.«
Hicks lässt sich durch die Vororte im Norden Chicagos chauffieren, einen grünen Wohlstandsgürtel, der mit jeder Meile eindrucksvoller wird. Er neigt den Kopf und betrachtet die prachtvolle, grauschimmernd daliegende Fläche des Lake Michigan.
Glänzend vor ihm schlug das Wasser …
Schlug der blanke Groß-See-Wasser …
Viele Häuser in der Nachbarschaft meiner Eltern sind von jungen Paaren gekauft und dann abgerissen worden, um verwinkelte Gebäude von 1500 Quadratmeter Grundfläche zu errichten, mitGiebeln, Türmchen, Klimaanlage, Fitnessraum, Spielzimmer für ADHS-geplagte Kinder und mindestens drei Garagen. Das Divine-Haus hingegen ist noch im Originalzustand und sieht mehr oder weniger aus wie 1928, als ein Haus mit nur einer Garage noch keine fast unzumutbare Einschränkung bedeutete. Damals, in den zwanziger Jahren, waren meine Großeltern geboren worden, die ich übrigens gern ein oder zwei Dinge fragen würde, falls ich ihnen hier in der Ewigkeit mal begegnen sollte. Hat sich Grandma Phyllis wegen ihrer Cellulite Gedanken gemacht? Hatte Grandpa Lou Probleme, sein Arbeits- und Privatleben in Einklang zu bringen?
Das Heim meiner Kindheit ist weder kitschig noch gediegen wie ein Herrenclub. Es ist gemütlich, hat graue Schindeln, glänzend schwarze Fensterläden, und im Sommer klettert an einem Drahtgitter eine blaue Klematis die Hauswand hoch. Ein Weg aus Steinplatten führt zur Tür, der inzwischen ganz überwölbt ist von einem immergrünen Gewächs, das dringend mal zurückgeschnitten werden müsste. Meine Eltern weigern sich, die große Tanne zu Weihnachten zu schmücken, weswegen Mrs. Swenson von nebenan alle Jahre wieder Zustände kriegt.
Immer schön langsam,
sagt Hicks zu sich selbst, steigt aus dem Taxi und bittet den Fahrer, ihn in drei Stunden wieder abzuholen. Mein Fall ist der erste, den er allein bearbeitet. Er ist nervös. Doch er ruft sich erneut ins Gedächtnis, dass er so tun kann, als sei er mein Biograf und wühle sich deshalb durch meine Lebensgeschichte. Nur die Wenigsten wissen, dass Detective H. Hicks an einem der provinziellen Ableger der State University of New York einen Bachelor in englischer Literatur gemacht hat.
An Hicks gefällt mir nicht nur seine professionelle
joie de vivre
, sondern auch, dass er einer jener schlanken Männer ist, die es verstehen, sich zu kleiden. Ein offener bronzefarbener Harris-Tweedmantel hängt ihm elegant von den Schultern herab, und dazu trägt er einen Kaschmirschal in einem würzigen Braun. Vorsichtig läuft er um die vereisten Stellen auf dem Gehweg herum,die auch jetzt im März noch nicht geschmolzen sind, und betätigt zuversichtlich zweimal den Türklopfer meiner Eltern.
Und mit heiterm, stolzem Lächeln,
Mit dem Blicke des Frohlockens,
Wie ein Mann, der im Gesichte
Sieht, was noch nicht ist, doch sein wird,
Stand und harrte Hiawatha.
Detective Hicks von Manhattans zwanzigstem Polizeibezirk ist zwanzig Minuten zu spät dran, doch jetzt, da er hier ist, ist meine Mutter aufgeregter als zuvor. Sie hat das starre Lächeln eines Schlaganfallpatienten im Gesicht und bemüht sich eifrig wie ein Cockerspaniel um ihn.
An einem ganz normalen Sonntag würde ich erwarten, dass meine Mutter in der Küche steht und Suppe kocht, in Levis-Jeans, einem uralten Schlabberpullover und mit abgetragenen
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