Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
Vom Netzwerk:
übereilt Barry zu heiraten.
    Meine Mutter starrt vor sich hin. Ich kann erkennen, dass sie mich im Alter von zwölf vor sich sieht, dürr, nichts als Arme undBeine. Am liebsten würde sie die Hand nach mir ausstrecken und mich an sich ziehen, um noch einmal den Duft meiner Haare und meiner frischgebadeten Haut zu atmen.
    »Claire, Liebling, was ist?«, fragt mein Vater und legt seine Pranke auf ihre Hand. Doch sie schüttelt nur den Kopf, wischt sich eine Träne weg und holt tief Luft.
    »Detective, ich kann jetzt nicht weitermachen«, sagt sie. »Las sen Sie uns etwas essen.«
Mir wäre es lieber, wenn es hier um meinen Tod ginge,
denkt sie.
Warum konnte es nicht mich treffen?
    Das Gespräch versiegt, als die drei sich zurückhaltend von den Bagels und den vier Sorten Fisch nehmen und im Laufe der Mahlzeit kräftiger zulangen. Sie sind beim Apfelkuchen angelangt – den meine Mutter gebacken hat, um den Exzess jüdischer Tradition etwas abzumildern   –, als Lucy durch die Haustür stürmt. Sie hängt ihren unförmigen, mit Fuchsfell besetzten Parka an die Garderobe im Flur, steigt aus ihren Boots, läuft auf grünen Strumpfsocken ins Zimmer und ruft: »Hallo, da bin ich!« Unsere Eltern begrüßt sie mit einem Kuss, Hicks streckt sie die Hand entgegen. »Ich bin Lucy«, sagte sie. Ihre Hände sind eine kleinere Ausgabe der meines Vaters, breit und zupackend.
    »Hiawatha Hicks.«
    Das soll wohl ein Scherz sein,
denkt Lucy, und es gelingt ihr beinahe, ihre Gesichtszüge zu beherrschen, während sie sich fragt, ob er auch eine Schwester namens Minnehaha hat. Hahaha. »Tut mir leid   … der Verkehr«, sagt sie, doch ihre Selbstkontrolle ist so weit dahin, dass meine Eltern etwas peinlich berührt sind. »Was habe ich verpasst?« Und noch ehe Hicks antworten kann, macht Lucy sich über das Essen her und nimmt sich besonders viel von den Zwiebeln, die die anderen ebenso höflich vermieden haben wie die schwierigen Fragen.
    Der Detective ist jung und gut aussehend, stellt Lucy fest, und trägt keine Schuhe mit Gummisohlen, sondern anständige lederne Budapester, die noch keine Schneeflecken abbekommen haben. Seine Haut hat die Farbe dunkler Milchschokolade, und sein Haarist kurz und wurde kürzlich erst geschnitten. Sie weiß nicht genau, ist er Puertoricaner oder Afroamerikaner? Vermutlich eine etwas exotischere Mischung, denkt sie schließlich.
    »Also, Ihr Vorname – da hatte wohl irgendwer ein Faible für ›Das Lied von Hiawatha‹, was?« Als Lucy einen Bagel aufschneidet, fängt sie den Blick unserer Mutter auf und sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an:
Was ist denn das für ein Essen – wahrscheinlich will der Typ viel lieber Würstchen und Eier.
    »Zum Glück kann Longfellow ja keine Tantiemen mehr eintreiben«, erwidert Hicks. Keiner lacht, also macht er mit der Schock-und-Mitleid-Nummer weiter. »Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte nie Gelegenheit, zu fragen, wie es zu diesem Namen kam. Ich war erst acht, als meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, und bin bei meiner Großmutter aufgewachsen.«
    Meine Eltern und Lucy sind zu liberal eingestellt, um nach dem Vater zu fragen. Doch keiner von ihnen ist von Hicks’ trauriger Geschichte so bewegt, wie sie es normalerweise gewesen wären, denn etwas Größeres und Dunkleres ist in den Raum getreten. Der Tod. Hicks’ Worte haben den dunklen Schleier gelüpft, und der Atem meiner Mutter geht so rasch, dass sie fast nach Luft schnappt. Jetzt können sie anfangen. »Wollen wir den Kaffee vor dem Kamin trinken?«, fragt sie.
    »Gute Idee«, sagt mein Vater, obwohl die Frage an Hicks gerichtet war. Sie siedeln wieder ins Wohnzimmer um, das überquillt von Familienfotos: Zwillingsschwestern mit Rattenschwänzen, langen und kurzen; Bilder vom Highschool-Abschluss; Aufnahmen vor und nach der Zahnspange; Schnappschüsse aus dem Ferienlager; Bat-Mizwa-Porträts; Urlaubsfotos meiner Eltern, auf denen meine Mutter meinem Vater stets strategisch den rechten Arm um die Hüfte legt, damit man seine Fettpölsterchen nicht so sieht; außerdem mindestens zehn Fotos von Annabel, samt einem ganz neuen in einem Silberrahmen. Darauf trägt meine Tochter eins meiner alten gesmokten Florence-Eiseman-Kleider. In Blau, der Molly-Farbe. Lucy hat als Kind immer Rot getragen.
    Meine Eltern schmiegen sich aneinander und halten sich an den Händen. Hicks und Lucy sitzen ihnen gegenüber, bereit zum Schlagabtausch wie zwei Preisboxer.
    »Mr.   Divine, erzählen Sie mir

Weitere Kostenlose Bücher