Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
zwei Platzkarten aus schwerem Pergament heraus, die mit eleganten Lettern beschriftet sind. Kitty stellt die Karte meines Vater direkt neben ihren Platz, während sie bei meiner Mutter ein wenig rätselt.
»Die Girls schließen bereits Wetten ab, was Claire wohl tragen wird«, erzählt sie Barry. Linda, Suzette, Nancy und Kitty sind seit Jahrzehnten unzertrennliche Freundinnen. Und sie sind nicht nur genauso bissig wie der Girls Club im gleichnamigen Hollywoodfilm, sie sind auch äußerst findig. Vor Google gab es Die Girls. Ob man eine heiße Suppe oder ein heißes Date brauchte, sie hatten immer einen heißen Tipp. Hätten diese Ya-Ya-Schwestern beschlossen zu arbeiten, hätten sie zweifellos raketenartig die Glasdecke durchstoßen. Allerdings höre ich heute zum ersten Mal, dass sie meine Mutter interessant genug finden, um ihre Kleidungzu kritisieren – die war für den Geschmack der Girls doch immer viel zu wenig Label-lastig.
Kitty legt auf, richtet rasch die elfenbeinfarbenen Kerzen in den hohen Kerzenhaltern senkrecht aus und mustert den Kidduschbecher, der Barrys Vater gehört hat. Das getriebene Silber, mit Reben und Weintrauben verziert, ist an einer Stelle ein klein wenig angelaufen. »Pinky«, ruft sie. »Kommen Sie mal her!«
Pinky tritt in ihrer gestärkten grauen Uniform ins Esszimmer und trägt den anstoßerregenden Becher zum erneuten Polieren davon.
Schon ein erster Blick auf diese Tafel verrät, dass meine Schwiegermutter sich selbst äußerst ernst nimmt, und das sollte jeder andere besser auch tun. Den Tisch hat sie bereits gestern gedeckt, und ich muss zugeben, diese Frau hat, wie sie selbst es wohl ausdrücken würde, Flair. Mir gefällt ihr Porzellan – ein Service für nicht weniger als vierundzwanzig Personen –, das sie in weiser Voraussicht angeschafft hat, als sie ihren zweiten Ehemann heiratete, Seymour Katz, der vor drei Jahren gestorben ist. Die Teller ziert ein altes Meißenmuster mit einem wilden Drachen in einer Farbe, die sie Amethyst nennt, die meiner Ansicht nach aber eher Knallpink ist, fast derselbe Ton, den Annabels Gesicht im letzten Jahr annahm, als sie das Geschirr zum ersten Mal sah und ihre Großmutter fragte, warum sie »Monsterteller« benutze.
Dennoch, mir gefällt, wie diese Teller die Blumen zur Geltung bringen. Für das heutige Abendessen hat Kitty ganze Wagenladungen Freesien und Iris gekauft und sie zu Sträußen arrangiert, wie man sie schöner auch am Eingang des Metropolitan Museum nicht sieht. Das Tischtuch ist aus schwerem französischem Leinen. Vor meinem inneren Auge sehe ich es versteckt zuunterst in einem Schrankkoffer liegen, dessen aristokratische Besitzer vor den Nazis aus Paris fliehen müssen. Doch soweit ich weiß, hat Kitty dieses Tischtuch in Wirklichkeit von ihrer Mutter geerbt, die es wiederum beim Kartenspielen in Lido Beach gewonnen hat.
Ich liebe Pessach. Ich vermisse Pessach, mein liebstes Fest, auchwenn das nicht immer so war. Weihnachten war mir lange wichtiger, bis Lucy mich fragte: »Molly, siehst du denn nicht, dass das alles nur noch oberflächlicher Kommerz ist?« Ja, richtig, Oberflächlichkeit und Kommerz. Zwei Dinge, die meine Schwester im zarten Alter von elf verachten gelernt hatte.
Die meisten Juden wie ich – die kaum Purim und Durham auseinanderhalten können – sind sich einig, dass das Schönste am Pessachfest das Singen ist. Jedenfalls definitiv nicht die Matze, jenes ungesäuerte Brot aus den Zeiten der Not, das unsere Altvorderen in Ägypten aßen und das ihren Nachfahren in erster Linie als der direkte Weg zur Verstopfung bekannt ist.
Bei Kitty singt immer Barry die vier Fragen – auch wenn er längst nicht mehr, wie die Tradition es eigentlich verlangt, der Jüngste am Tisch ist. Und dann stimmen etwas schief, aber mit Begeisterung alle Gäste in die Pessachlieder ›Dajenu‹, ›Elijahu Hanavi‹ und ›Chad Gadja‹ ein.
An diesem Sederabend habe ich vor, für die Familie Marx als ihr persönliches Stunt-Double des Propheten Elija einzuspringen, denn der dürfte ziemlich beschäftigt sein bei all den Pessachfesten weltweit. Ich hoffe ja, dass ich Elija mal in der Ewigkeit begegne. Wir könnten ein bisschen plaudern, so von Geist zu Geist. Mal hören, was er so zu der Lage der Palästinenser zu sagen hat. Doch jetzt reicht es mir mit den Vorbereitungen für den Seder. Kitty macht Gefilte Fisch, damit konnte man mich schon immer jagen.
Den ganzen Morgen über habe ich immer mal bei Annabel
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