Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
vorbeigesehen, die Kindergärtnerinnen werden die Kleinen heute zu Ehren des Feiertags früher nach Hause schicken. Meinen Geisterhintern kann ich natürlich ruckzuck zur Central Park West bewegen. Doch die Erste, die ich in der Eingangshalle sehe, ist nicht Annabel – der Kindergarten ist noch nicht aus –, auch nicht Delfina, die auf sie wartet. Es ist Stephanie, kaum zu übersehen in Hüftjeans und einer auffälligen bronzefarbenen Lederjacke. Sie scheint mit sich selbst zu sprechen, doch nein, sie telefoniert bloß lautstarküber ihr Headset. Ihren Worten entnehme ich, dass sie mitten in einem hitzigen Gerangel mit einem Reisebüroangestellten über den Preis zweier Erste-Klasse-Flugtickets nach Barcelona steckt. Ich muss mich wohl nicht erst fragen, wer den Platz neben ihr einnehmen wird.
Ich bin so auf Stephanie konzentriert, dass mir beinahe entgeht, was an dieser Szenerie hier nicht stimmt. Es ist nicht der Wachmann, der halbherzig in die Taschen der Leute späht – einer von denen, die selbst noch ein mit Monogramm verziertes Schusswaffensortiment übersehen würden. Es sind nicht die Kindermädchen, die in der Ecke dahinten über ihre Chefinnen lästern und durch Welten von den Müttern getrennt sind, wie die Muggels von den Zauberern. Und es sind auch nicht die drei gutaussehenden schwulen Väter, die dort an der Seite in einem eigenen Grüppchen beisammenstehen, zu dem nur Zutritt erhält, wer eine chinesische Adoptivtochter hat oder einen Sohn, der von einer Leihmutter ausgetragen wurde. Nein,
sie
ist es.
Reglos steht sie unter mindestens einem Dutzend Frauen ihres Alters da und tut so, als würde sie eine Zeitschrift lesen. Ich nehme sie aus dem Augenwinkel wahr, wie die Ratte in der U-Bahn , die man schon sieht, ehe sie über die Gleise flitzt. Mit dem schwarzen Mantel, den schwarzen Stiefeln und der schwarzen Tasche ist sie nur eine weitere der vielen Frauen, die darauf warten, dass sich die Türen des Fahrstuhls öffnen und eine Horde kichernder Drei- und Vierjähriger freigeben.
Stephanies Sohn ist in der ersten Gruppe, die in die Eingangshalle kommt, und der kraushaarige Jordan rennt auf sie zu, zieht an ihrer Jacke und ruft: »Mommy!« Sie legt den Zeigefinger an die Lippen und macht: »Sch.« Ein Teil meines Ichs würde meine Schwester am liebsten anstoßen und ihr zuflüstern:
Die da ist es! Mit der hat Barry was!
Doch dabei kann es sich bloß um den winzig kleinen Teil meines Ichs handeln, der sich nicht fragt, was zum Teufel Lucy Divine hier zu suchen hat und wieso sie so tut, als wäre sie befugt, Annabel vom Kindergarten abzuholen.
Zwei weitere Gruppen rennen aus dem Fahrstuhl heraus. Hoffentlich kommt Delfina gleich, sie ist doch sonst immer pünktlich. Dann fällt mir ein, dass Barry ihr den Tag freigegeben hat, weil sie heute Abend Pinky beim Servieren des Sederessens helfen wird. Annabel soll mit ihrer Freundin Ella und Narcissa, Ellas Kindermädchen und Delfinas bester Freundin, nach Hause gehen.
Die Fahrstuhltüren öffnen sich ein letztes Mal. Beide Mädchen kommen herausgelaufen und verabschieden sich winkend von ihrer Kindergärtnerin. Jede hält eine selbstgebastelte, sorgfältig bemalte Matze-Tüte in der Hand. Annabels ist mit Hasen und Eiern in Osterfarben geschmückt. Ganz meine Tochter.
»Annie-Belle«, ruft Lucy. »Hier! Überraschung!«
Ihre Kindergärtnerin unterhält sich schon mit einer der Mütter, und Annabel wirbelt herum und läuft auf Lucy zu. »Tante Lucy!«, quiekt sie. »Daddy hat gesagt, du kommst nicht nach New York!« Sie wirft sich ihrer Tante in die Arme und wird fest gedrückt.
»Was hast du denn da Schönes gebastelt?«, fragt Lucy und bewundert Annabels Werk. »Weißt du was? Das kannst du mir nachher erzählen. Lass mich erst mal deine Jacke zumachen.« Lucy spricht schnell, lässt Annabel los und klopft ihr sanft auf den Rücken.
Oj-oj-oj! Hat Lucy nicht mehr alle Murmeln beisammen? Wohin will meine Schwester mit meiner Tochter? Ganz egal, ob ihr Vorhaben harmlos ist – wovon ich ausgehe. Ausgehen muss. Muss.
Annabel sieht durch die Eingangshalle zu ihrer Freundin hinüber und dreht sich wieder zu Lucy um. »Aber ich soll doch mit Ella nach Hause gehen.«
Ella wartet in der Nähe der Eingangstür auf Narcissa und geht zu Annabel und Lucy, als sie ihren Namen hört. Ella wird zweifellos mal Richterin am Supreme Court werden – oder vielleicht Gefängnisdirektorin. Mit großem Argwohn mustert sie Lucy. Dieses Mädchen wird schon mit
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