Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Delfina heraus, deren gewöhnliche Zen-Ruhe dahin ist. So wie Narcissa, die leidenschaftlich gern die Krimis von Mary Higgins Clark liest, ihr den Vorfall eben geschildert hat, wollte Lucy höchstwahrscheinlich Annabel in einen Bunker unter einem Hühnerstall an einem einsam gelegenen Ort verschleppen.
»O Gott!«, ruft Barry und verschluckt sich beinahe beim Luftholen. »Dieses Miststück. Wo ist Annabel? Geht es ihr gut?«
»Annabel geht’s gut – sie ist bei Narcissa und Ella. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Mrs. Marx’ Schwester –« Delfina kann es mit ihrem christlichen Gewissen nicht mehr vereinbaren, sie »Lucy« zu nennen, »– sie ist weg.« Nachdem Barry mit Annabel telefoniert hat – »Hallo, Daddy. Tante Lucy war im Kindergarten! Ja, das war
sehr
aufregend. Nein, sie hat nicht gesagt, warum. Daddy, Narcissa macht uns jetzt Milchshakes. Tschüs« –, sagt er drei Termine ab: eine Sechzehnjährige, die ihr Kinn operieren lassen möchte; eine Nachbearbeitung bei einer Frau aus Kittys Generation mit einer dieser furchtbaren Nasen von früher, die aussehen wie mit dem Bleistiftanspitzer geformt; und eine Frischgeschiedene, die eine Nasen-Kinn-Kombi will. Barry stürmt aus seiner Praxis, springt in ein Taxi – dieser Mann hat das beste Taxi-Karma aller Menschen, die ich kenne – und eilt nach Hause, ohne auf Stephanies wiederholte Anrufe zu achten.
Wenn Barry nervös ist, wird er ruhelos. Zwanzig Minuten sind vergangen, und wie der Panther eines drittklassigen Zoos mit beengten Käfigverhältnissen läuft er den langen Flur entlang,durchs Wohnzimmer, in Esszimmer und Küche und zurück – wieder und wieder. Zweimal will er seine Mutter und Detective Hicks anrufen, überlegt es sich aber wieder anders. Schließlich wählt er doch eine Nummer. »Stephanie. Du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist.«
»Herrje, endlich! Ich habe schon überall versucht, dich zu erreichen .«
Verdammt,
denkt sie,
wie kommst du dazu
,
meine Anrufe zu ignorieren?
»Wo bist du?«
»Zu Hause.«
»Ich mache mich sofort auf den Weg«, erwidert sie, dankbar für dieses unerwartete Glück. »In zwanzig Minuten bin ich da.«
Barry tigert erneut durch die Wohnung, bis er plötzlich ins Schlafzimmer geht. Er schlägt ein ledernes Adressbuch auf. Kein BlackBerry für mich. Ich habe jedes Jahr an einem Sonntag Anfang Januar ein Ritual daraus gemacht, die Daten meiner Verwandten und Freunde handschriftlich zu aktualisieren oder auch ein für allemal zu streichen. Dieses Jahr habe ich drei Collegefreunde und zwei frühere Kolleginnen aussortiert und mich sehr geschämt, als ich vier von ihnen auf meiner Beerdigung sah.
Barry erreicht Brie in ihrem Büro. »Lucy ist völlig durchgedreht«, sagt er. Bewundernswert, wie er sich beherrscht. »Sie wollte Annabel entführen.«
»Moment mal. Das kann nicht sein«, entgegnet Brie. »Lucy Divine führt sich manchmal merkwürdig auf, aber sie ist doch nicht verrückt.«
»Doch, ist sie, eindeutig.«
Brie schweigt sieben volle Sekunden lang, in denen ihr aufgeht, dass Barry Unterstützung von ihr erwartet. In welcher Form, weiß sie allerdings nicht. Das kann wohl nur ein persönliches Gespräch klären. »Soll ich zu dir kommen?«
»Ja, gern.«
Barry hat nicht wirklich eine Abneigung gegen Brie. Er bewundert ihre Intelligenz und ihren Ehrgeiz und hält sie für umwerfend sexy. Ihre lesbische Beziehung betrachtet er als eine vorübergehendePhase, mit der sie der Welt nur beweisen will, wie progressiv sie ist. Aber das Verhältnis der beiden war immer recht kühl, da Barry intuitiv und völlig richtig erfasst hatte, dass Brie und ich seit Jahren seine Affären und Flirts eingehend besprachen.
Dank ihres Firmenwagens mit Chauffeur braucht Brie exakt zehn Minuten die Madison Avenue hoch und dann quer durch den Park. In unserem Gebäude gibt es auf jedem Stockwerk nur zwei Wohnungstüren. Brie und Stephanie kommen genau zur selben Zeit an, fahren gemeinsam schweigend mit dem Fahrstuhl hinauf und steigen zu ihrer beider Überraschung auf demselben Stockwerk aus und gehen auf die Wohnung der Marxes zu. Brie dreht sich zu Stephanie um. Sie hätte ihr fast die Hand gereicht, doch sie beherrscht sich. Diese Fremde mit den engen Jeans, den Stiefeletten und dem leicht aufdringlichen Parfüm könnte eine der mit mir befreundeten Mütter sein, denkt Brie. Vielleicht fände die Frau eine solche Geste zu maskulin.
Brie will nicht in eine Schublade gesteckt werden und ist
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