Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
lieber überkorrekt. Heute trägt sie ein enges wollweißes Kleid und unglaublich spitze, hohe Pumps, deren goldfarbene Absätze auch als Eispickel Verwendung finden könnten. Um ein Handgelenk schmiegt sich schimmernd ihr Schlangenarmreif. Es würde ihr schmeicheln, wenn man sie für die Pressesprecherin eines Rockstars hielte statt für die Justiziarin eines großen Unternehmens.
Brie lächelt freundlich. Stephanie zeigt keine Reaktion. »Ich bin Brie Lawson, Mollys Freundin«, sagt sie trotzdem.
»Stephanie Joseph«, erwidert die andere kühl. »Annabels Therapeutin.«
Lügnerin.
Barry öffnet die Wohnungstür. Sein dünner werdendes Haar ist verwuschelt, weil er so oft mit der Hand durchgefahren ist, und er ist barfuß, obwohl er immer noch sein verknittertes Hemd und die Anzughose trägt. »Stephanie, darf ich vorstellen, Brie. Brie, Stephanie.« Er führt die beiden Frauen ins Wohnzimmer und lässt sich auf die Couch fallen. »Ich habe versucht, das durchgeknallteMiststück zu erreichen, aber ihr Handy ist ausgeschaltet.«
»Ich habe sie auch nicht erreicht«, sagt Brie. »Wir sollten Claire und Dan anrufen.«
Claire und Dan. Wer ist das denn,
fragt sich Stephanie. Sie möchte so gern klug und wichtig erscheinen, aber wie? »Warum melden wir es nicht der Polizei?«, schlägt sie in ihrem nasalen, ernsten Tonfall vor.
»Der Polizei?«, wiederholt Brie und betrachtet diese Therapeutin, die wie für eine After-Work-Party gekleidet ist, genauer. Seit wann hat Annabel eigentlich eine
Therapeutin?
Barry hat sie noch nie erwähnt. »Die sollten wir lieber aus dem Spiel lassen – vorerst jedenfalls.«
»Ich denke an ein Umgangsverbot«, sagt Stephanie. »Wir sprechen hier von versuchtem Kidnapping, im günstigsten Fall.« Da weder Barry noch Brie sie mit einer Antwort bedenken, wechselt sie das Thema. »Wir können sicher alle einen Drink vertragen, oder? Barry, steht der neuseeländische Sauvignon Blanc von neulich noch im Kühlschrank?«
Barry sieht Stephanie an. »Gute Idee. Die Flasche habe ich ausgetrunken, aber mach doch eine neue auf.«
Stephanie geht in die Küche.
Diese Therapeutin duzt Barry nicht nur und weiß, was in seinem Kühlschrank steht, sondern hat auch eine verdammt gute Figur,
denkt Brie. Womit sie recht hat, wie ich zugeben muss, wenn ich mir jetzt so Stephanies lange Beine und ihren festen Hintern ansehe.
»Was willst du in dieser Angelegenheit unternehmen?«, fragt Brie.
»Hey, du bist die Juristin«, sagt er. »Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.«
»Barry?«, ruft Stephanie aus der Küche. »Könntest du mir wohl mal helfen?«
»Entschuldige«, sagt Barry und verschwindet. Nach einer Minute sieht Brie auf die Armbanduhr. Noch zwei weitere Minutenvergehen, ehe die beiden zurückkommen – Stephanie ohne ihren burgunderfarbenen Lippenstift, auch wenn ihre Lippen noch kunstvoll von einem Konturenstift umrahmt sind.
»Für mich nicht, danke«, sagt Brie, als Stephanie ihr ein Glas Wein anbietet. »Wir sollten jetzt wirklich deine Schwiegereltern anrufen«, sagt sie zu Barry. »Der Anruf sollte allerdings von dir kommen.«
»Ich rufe sofort an«, erwidert er. Es meldet sich mein Vater, der gerade in einem kleinen Hotel östlich des Central Park seinen Koffer ausgepackt hat. Meine Mutter ist zu Bloomingdale’s gegangen, um ein Gastgeschenk für Kitty zu kaufen. Duftkerzen? Mit Schokolade überzogene Brezeln?
Was auch immer ich nehme, es wird das Falsche sein,
denkt meine Mutter. Da hat sie recht.
»Barry«, sagt mein Dad herzlich.
» A ziesen pessach
.«
»Dir auch, Dan. Aber ein besonders frohes Pessachfest ist es nicht, fürchte ich.«
Dan wappnet sich, denn er erwartet einen schlechten Witz. Kommen ein katholischer Priester, ein protestantischer Pfarrer und ein chassidischer Rabbi in eine Bar … »Sag nichts. Deine Mutter hat beschlossen, Sushi statt Gefilte Fisch zu servieren, oder?«
»Vielleicht setzt du dich lieber?«, fragt Barry. Er möchte nichts falsch machen. Wie die allermeisten Menschen hat Barry meinen Vater wirklich gern.
Mein Vater setzt sich nicht einfach nur, er streckt seinen mächtigen Körper auf dem Bett aus und sieht an die Decke, das Handy ans Ohr gepresst. »Setz dich« ist nie die Einleitung zu etwas, das man hören möchte.
»Es geht um Lucy«, beginnt Barry.
Ich sehe meinen Vater erleichtert aufatmen. »Oh, ja. Tut mir leid, dass sie zum Sederabend nicht kommen will, Barry. Es war wirklich sehr großzügig von deiner Mutter, uns
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