Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Kollegin von mir – einen Krankenhausbesuch gemacht, weil ihre Cousine ein Kind bekommen hat. Und jetzt rate mal, wer da durch die Glasscheibe ins Säuglingszimmer geschaut hat?«
»Nein!«
»Sie hat ihn erkannt, weil ein Bild von ihm auf meinem Schreibtisch stand.«
Ich hörte Lucy schniefen. Es war zu dunkel, ich konnte nicht sehen, ob sie weinte.
»Am nächsten Tag nahm Jessica mich beiseite und sagte, sie hätte sich die ganze Nacht den Kopf zerbrochen, ob sie es mir erzählen soll. Ich bin direkt ins Krankenhaus gefahren.« Lucy hielt kurz inne. »David und seine Frau haben einen Jungen bekommen. Er ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Mir drehte sich der Magen um. »Das tut mir so leid, Lucy«, sagte ich. »Was für ein Idiot –«
»Halt den Mund, Molly«, schnauzte sie, wieder ganz die alte Lucy. »Ich brauche dein Mitleid nicht. Verstanden?«
In der Dunkelheit starrte ich meine Schwester an, die ich, wiemir plötzlich klar wurde, kaum kannte und die ich vielleicht nie kennen würde. »Du kannst mich mal, Dussely. Ich halte nicht den Mund«, rief ich und warf ihr ein Kissen an den Kopf. »Du hast jemanden geliebt. Was ist so schlimm daran? Glaubst du wirklich, du würdest alles anders machen, wenn es noch mal von vorn anfinge? Das Herz will, was es will.«
»Wer bist du, Woody Allen?«
»Ich liebe dich, das ist alles«, erwiderte ich. Das hatte ich ihr, glaube ich, noch nie gesagt.
Lucy schwieg. Dann hörte ich eine sehr leise, verwischte Stimme. »Ich fühle mich immer so verurteilt von dir, von dieser Mrs. Marx mit dem perfekten Leben.«
»Mit dem perfekten Leben?«, krächzte ich ungläubig. Auf das »verurteilt« wollte ich lieber nicht eingehen, denn sie hatte recht, ich hatte sie seit über dreißig Jahren immer wieder verurteilt.
»Die süße kleine Tochter, der erfolgreiche Ehemann, der perfekte Teilzeitjob, das blonde Haar, die Kleidergröße 38.«
Natürlich, so stellte es sich aus ihrer Sicht dar. »Kein Widerspruch, was Annabel angeht, aber Barry …«
»Ärger im Paradies?«, fragte sie. Etwas zu rasch.
Ich war in einen Lucy-Hinterhalt geraten. Ich wollte Barry nicht verraten, doch diese Schwesternsache zwang mich, auch etwas preiszugeben. »Barry ist ein großartiger Vater, aber manchmal bemerkt er gar nicht, dass es mich auch noch gibt. Und wenn, dann nur, um mich zu kritisieren. Er stellt jede meiner Entscheidungen in Frage. Das heißt, wenn er nicht schon selbst eine einsame Entscheidung getroffen hat und es auf mich sowieso nicht mehr ankommt.«
»Was hast du erwartet? Hast du tatsächlich an das Gerede von der idealen Ehe geglaubt?« Nach dieser Frage hat sie, glaube ich, wirklich verächtlich geschnaubt.
»Ich glaube, dass er andere Frauen hat.«
Lucy besaß Takt genug, einen Augenblick zu warten, ehe sie sagte: »Das glauben wir alle.«
Mom und Dad auch? Autsch. »Aber da ist noch was, Lucy.« Ich zögerte. »Es ist nämlich so, es gibt einen anderen Mann.« Ich habe kein einziges Detail genannt, schon gar nicht Lukes Namen. »Ich wollte das gar nicht, es ist einfach so passiert.« Sogar ich selbst bemerkte, dass ich dieselben Worte wie jede untreue Ehefrau benutzte. Phrasen. »Aber jetzt treffe ich mich schon eine ganze Weile mit ihm, in seiner Wohnung.« Nantucket, Amsterdam, Santa Fe und Yellowstone ließ ich weg.
» Du
hast einen Geliebten?«
»Tja, so könnte man es wohl nennen.«
Lucy lachte. »Für zwei Mädels aus dem Mittleren Westen sind wir ganz schön verkorkst, was?«
Der richtige Schlusspunkt für unser Gespräch, dachte ich. Ich wollte Lucy nicht noch mehr erzählen, sonst wären die Details nur so aus mir herausgesprudelt und hätten wie Erdöl, das aus dem Boden hervorschießt, alles um sich herum verseucht. Doch als ich fast schon eingeschlafen war, sagte Lucy plötzlich: »Molly, diese Sache mit dem anderen Mann solltest du aufgeben. Das Herz mag wollen, was das Herz will, aber du könntest verletzt werden.« Lucy hatte plötzlich ihr leichtfertiges Ich abgestreift und war zu jemand Nachdenklichem, Klugem geworden. »So wie ich.« Sie setzte sich auf und legte mir die Hand auf die Schulter. »Das sage ich, weil ich dich liebe.« Und dann begannen wir beide zu weinen, und keine von uns schlief so bald ein.
Am nächsten Morgen wachten wir spät auf und verpassten nicht nur die morgendliche Wanderung, sondern auch den Bus zum Flughafen von San Diego. Und dies, sage ich zu Bob, ist die schönste Erinnerung, die ich je von meiner
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