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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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noch kein einziges Mal das Wort »dysfunktional« ausgesprochen, jedenfalls nicht laut.
    Lucy hasst ihr gegenwärtiges Leben, obwohl sie weiß, dass es hätte schlimmer kommen können. Sie musste mit unseren Eltern, die dann als Vermittler mit Barry gesprochen haben, erst aushandeln,dass sie weiter an der Grundschule unterrichten durfte. Hätte die Entscheidung bei meinem Ehemann gelegen, wäre Lucy sofort in die Entzugsklinik Hazelden eingeliefert und fürs Erste festgesetzt worden. Um einen Entzug wovon zu machen, hatte Lucy Barry über meine Eltern fragen lassen. Davon, dass sie Annabel zu sehr liebte? Dass sie ein paar unbeschwerte Stunden mit der Tochter ihrer toten Schwester verbringen wollte? Dass sie sich Sorgen um das Wohlergehen des Kindes gemacht hatte? Denn so beschreibt sie natürlich aus ihrer Sicht, was in meiner Familie nur der
Vorfall
genannt wird.
    Barry hat sich damit einverstanden erklärt, dass Lucy bei den Divines unter Hausarrest gestellt wird. Lucy ist der Albtraum eines jeden Elternpaares aus der Mittelschicht: eine erwachsene Tochter, Single, nie verheiratet, kinderlos, die ins Nest der Familie zurückgekehrt ist, wo sie in unserem alten Kinderzimmer ihre Strafe absitzt, als wäre sie beim Rauchen eines Joints erwischt worden. Gäbe es im Supermarkt GPS-gesteuerte Fußfesseln zu kaufen, meine Eltern hätten längst welche angeschafft. Stattdessen fahren sie Lucy jetzt zu ihren Arztterminen und zur Arbeit in die Stadt, als wäre sie vierzehn Jahre alt.
    Das Leben meiner Eltern ist zu einem Dasein geworden, das beschämender, erdrückender und unbehaglicher ist als das in der grässlichsten Reality-T V-Show . Wenn meine Eltern und Lucy sich gemeinsam hinsetzen, um zu essen oder eine DVD anzusehen, steht eine Mauer zwischen ihnen, die auch das alltäglichste Gespräch verhindert. Lucy kann weder ihrer Mutter noch ihrem Vater in die Augen sehen. Heute hilft sie, die sieben großen Tüten mit Lebensmitteln aus dem Sunset Market ins Haus zu tragen, räumt alles ein und verschwindet dann nach oben, um zu lesen, wie sie sagt. Lucy fühlt sich wie die größte Versagerin der Welt, als sie vor dem Badezimmerspiegel steht und nach grauen Haaren sucht. Ihr erstes hat sie letzten Monat herausgerissen und gestern zwei weitere.
Wenn dieser Albtraum hier zu Ende ist,
denkt Lucy,
bin ich grauhaarig oder kahl.
    »Scheiße«, stößt sie hervor, geht zu ihrem Bett und boxt auf das Kissen ein. »Scheiße. Scheiße. Scheiße.«
    »Alles in Ordnung da oben?«, ruft meine Mutter.
    »Alles bestens«, ruft sie zurück.
    Falls Lucy vorher noch nicht meschugge war – wovon sie selbstverständlich überzeugt ist, sie war nur »sehr besorgt«   –, dann wird das Leben in dieser Petrischale hier sie noch dahin bringen. Ich bin noch nicht so weit, Mitleid mit ihr zu haben, auch wenn ich mich bemühe. Bis dahin behaupte ich einfach mal, dass Lucy missverstanden wird. Sie hat keine Schraube locker, sie hat mich aus tiefstem Herzen geliebt, und ihre Motive sind aufrichtig. Ich kann nicht glauben, dass die Motive meiner Schwester die eines Monsters sind. Niemals.
    Allerdings weiß ich auch, dass Lucy zu all meinen Überzeugungen nur eines sagen würde: »Molly, du bist ein gottverdammter Dummkopf.« Was mich zum Wesentlichen führt: Der
Vorfall
macht mich unglaublich wütend. Er war und ist eine enorme Zeit- und Energieverschwendung und absolut unfair meinen Eltern und Annabel gegenüber, die jetzt ihre Tante nicht mehr sehen darf. Er hat die Kluft zwischen dem Clan der Divines und dem der Marxes noch vertieft und macht es meinen Eltern fast unmöglich, auch nur das simpelste Gespräch mit ihrem einzigen Enkelkind zu führen, geschweige denn, ihr Sozialleben wiederaufzunehmen, das sie auf Eis gelegt haben. Und vor allem ist dies ein Vorfall, der Hicks womöglich vom eigentlichen Fall ablenken könnte, so dass er nicht mehr nach dem
Warum
fragt.
    Aber mich ständig darüber aufregen – wohin soll mich das bringen? Hier in der Ewigkeit nennen wir die Leute, denen es so ergeht, Hornissen. Sie schwirren herum, voll selbstgerechter Empörung, und selbst andere Hornissen gehen ihnen aus dem Weg, als hätten sie Schweißfüße. Ich habe mit Bob, meinem persönlichen Dr.   Solomon, über Lucy geredet.
    »Konzentriere dich auf die guten Erinnerungen«, hat er gestern erst gesagt, als wir wie immer unseren Abendspaziergang machten.Das ist Bobs Allheilmittel, um den Geist zu beruhigen und die Seele zu besänftigen, seine

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