Ich muss Sie küssen, Miss Dove
jedem einzelnen Tag ihres Ehelebens verhöhnt und sich nach anderen Männern verzehrt? Sollte er sich zivilisiert und diszipliniert verhalten und so tun, als täte ihm das nicht weh? Sollte er eher ein Heiliger sein oder ein Märtyrer, der niemals zurückschlägt?" Im Schein der langsam untergehenden Sonne lag plötzlich ein kaltes Glitzern in seinen blauen Augen. „Wenn sie mit ihrem Liebhaber nach Amerika durchbrennt, ihren Ehemann damit in aller Öffentlichkeit demütigt und seine ganze Familie einem Skandal aussetzt, sollte er dann trotzdem unerschütterlich Haltung bewahren? So tun, als wäre ihm das gleichgültig? Sollte er vor Gericht die Scheidung einreichen? Sollte er unverheiratet leben? Sich eine Geliebte nehmen?"
Der unverhohlene Schmerz auf seinen Zügen überraschte Emma. „Sie haben Ihre Frau geliebt", stellte sie fest. Das hatte sie vorher nie in Betracht gezogen.
„Natürlich habe ich sie geliebt!" Er wandte den Blick zur Seite und atmete tief durch. „Sonst hätte ich sie ja nicht geheiratet."
„So habe ich das nie gesehen. Ich dachte ..." Sie verstummte nachdenklich. „Ich habe wohl immer gedacht, dass Sie ihr nachgereist wären, wenn Sie sie geliebt hätten."
„Sie meinen, ich hätte ihr nach New York folgen sollen? Sie aus den Armen ihres Liebhabers zerren und mich mit einem Leben in der Hölle abfinden sollen? Wäre das anständiger gewesen als eine Scheidung?"
Sie sah ihn hilflos an und fand keine Antwort darauf. Für sie war Scheidung etwas Undenkbares, so undenkbar wie ohne Korsett auszugehen oder sonntags nicht die Kirche zu besuchen. Auf der anderen Seite — was wusste sie schon von den privaten Beziehungen zwischen Männern und Frauen? So gut wie gar nichts.
„Ich hatte mich auf den ersten Blick in Consuelo verliebt", sagte er und lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand. „Ich wusste nichts über ihren Charakter, ihre Ansichten, ihr Temperament, aber das störte mich nicht. Beim ersten Blick in ihre Augen verliebte ich mich in sie. Sie hatte die größten, dunkelsten und traurigsten Augen, die ich je gesehen hatte. Man hatte mich ihr noch nicht einmal richtig vorgestellt, da war ich schon entschlossen, sie zu heiraten. So schnell ging das."
Emma starrte ihn fassungslos an, und die Erinnerung an jenen Tag vor langer, langer Zeit in Tante Lydias Salon kehrte zurück, an dem ihr ein anderer Mann eine ähnliche Erfahrung gebeichtet hatte. „Ich war auch einmal verliebt", entfuhr es ihr.
„Ach ja?"
Sie nickte, und in Gedanken blickte sie durch die adretten Backsteinhäuser vor ihr geradewegs hindurch bis zum Red Lion Square, sechs Häuserblöcke von hier entfernt. „Er hieß Jonathan Parker, und er war ein Freund der Familie meiner Mutter. Ich kann mich vage daran erinnern, ihn ein- oder zweimal getroffen zu haben, als wir noch kleine Kinder waren, doch nach dem Tod meiner Mutter brach mein Vater jede Beziehung zu ihrer Familie und ihren Freunden ab, sodass ich Mr. Parker erst wieder begegnete, als ich zu meiner Tante nach London zog. Mr. Parker und ich wurden Freunde. Beste Freunde sogar."
„Verliebte?"
Emma seufzte. „Das dachte ich jedenfalls."
„Was ist geschehen?"
„Er machte fast täglich seine Aufwartung in Tante Lydias Haus. Zwei- oder dreimal in der Woche aß er bei uns zu Abend. Es war fast unheimlich, wie viel wir beide gemein hatten, wie wir über alles stets die gleichen Ansichten hatten. Auf Bällen waren wir beim Walzer immer ein Paar, denn wir tanzten vollkommen harmonisch miteinander. Wir wurden so oft zusammen gesehen, dass unsere Hochzeit irgendwann eine ausgemachte Sache schien. Jeder glaubte das."
„Und dann?", beharrte Harry, als sie schwieg.
„Und dann ging er eines Abends auf einen Ball. Ich war ebenfalls eingeladen, doch ich litt unter einer bösen Erkältung und konnte ihn nicht begleiten. Tante Lydia blieb zu Hause bei mir, doch am nächsten Morgen hörte ich, dass Mr. Parker alle meine Walzer mit einer anderen getanzt hätte, einem sehr hübschen blonden Mädchen. Sie hieß Anne Moncreiffe und stammte aus Yorkshire." Emma stellte erleichtert fest, dass es nicht mehr wehtat, darüber zu sprechen. „Drei Tage später, als ich wieder gesund war, kam Mr. Parker, um mir, seiner lieben Freundin, die frohe Nachricht zu überbringen. Er hatte sich sofort rettungslos in Anne verliebt. Sie war das schönste, lebhafteste und charmanteste Geschöpf, das er je gesehen hatte, und er wollte sie heiraten." Emma schüttelte den Kopf, als könnte
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