Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Festnahmeersuchen vor, aber die Polizei ist außerstande, diese Ganoven aufzuspüren. Die Kriminalität in der Bundesrepublik nahm in den vergangenen zehn Jahren dreimal so schnell zu wie die Bevölkerung. Die deutsche Kriminalpolizei, einst in der ganzen Welt bewundert, führt heute einen aussichtslosen Kampf gegen das moderne Verbrechertum.«
Tatsächlich stimmten die Kriminalstatistiken damals auch Berufsoptimisten nachdenklich: Jede Stunde wurden 120 Bundesbürger bestohlen; pro Tag fielen 17 Kinder, Mädchen oder Frauen einem Sexualverbrechen zum Opfer; in jeder Woche beklagten mehr als 1000 Bürger den Diebstahl ihres Autos; nicht weniger als 171 Mörder wurden gesucht – und nicht gefunden. Unter dem Strich blieb nahezu jede zweite Straftat unaufgeklärt.
Die deutsche Kriminalpolizei war damals wie heute föderalistisch strukturiert und organisiert, also in jedem Bundesland ein bisschen anders. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik waren sich alle Fachleute einig gewesen, dass mit derartigen Organisationsstrukturen kaum ein Blumentopf zu gewinnen war. Allerdings hatten die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg befürchtet, eine wie die ehemalige »Reichskriminalpolizei« einheitlich geführte Kriminalpolizei könne ein gefährliches Machtinstrument werden, wenn es in falsche Hände geriet.
Der politisch verordnete kriminalpolizeiliche Föderalismus erwies sich schnell als unbequemer Hemmschuh, insbesondere dann, wenn man so genannte reisende Verbrecher wirksam bekämpfen wollte; also jene Straftäter, die sich nicht an Orts-, Stadt- oder Landesgrenzen hielten und stahlen, raubten oder mordeten, wo es ihnen gerade passte. Das unübersichtliche, unhandliche und überanstrengte länderübergreifende Informationssystem wies zu viele Lücken im Fahndungsnetz auf. So wurden zwar einige Delikte, die einen »reisenden Täter« vermuten ließen, erkannt und in der »Straftatenkartei« auch bundesweit erfasst, aber eine Zusammenführung von Taten und Täter gelang zu selten. Viele wertvolle Ermittlungsansätze und Hinweise zerbröselten im Getriebe der Behördenbürokratie oder wurden überhaupt nicht weitergegeben.
Den kriminalistischen Erfolg gefährdete zudem ein vermeidbares Kompetenz- und Zuständigkeitswirrwarr. Ein Beispiel: Als im Sommer 1966 der 19-jährige Metzger Jürgen Bartsch, der vier Kinder zu Tode gefoltert hatte, in seinem Wohnort Langenberg im Rheinland gestellt wurde, war für diesen Fall die Kriminalhauptstelle Düsseldorf zuständig, obwohl Langenberg kriminalgeographisch zu Essen gehörte. In Essen hatte Bartsch zwei der Opfer entführt, und Essen hätte als Kriminalhauptstelle (solche Behörden sind damals wie heute für die Bearbeitung »herausragender Delikte« eines bestimmten Landkreises oder Regierungsbezirkes vorgesehen) auch die Ermittlungen führen dürfen. Aber die Essener Kriminalisten durften den Fall des »Kirmesmörders« nicht bearbeiten, sie mussten ihn »zuständigkeitshalber« ihren Düsseldorfer Kollegen abtreten, die mit den Verhältnissen in Langenberg überhaupt nicht vertraut waren. So einfach war das – oder so kompliziert.
In diesem Fall war es nicht anders: Beamte aus Münster mussten sich im 20 Kilometer entfernten Walstedde zurechtfinden, Fahnder aus Mönchengladbach und Moers in Rheinhausen, Kriminalisten aus Essen in Walsum und Dinslaken, Düsseldorfer Kripobeamte in Neuss, Ermittler des Präsidiums in Recklinghausen in Marl.
Und derlei Zuständigkeitsklüngel und Kompetenzgerangel schürte reichlich Ressentiments und Vorurteile, die überflüssig waren wie ein Kropf und das System mitunter lähmten. Der damalige Leiter der Düsseldorfer Kripo, Dr. Bernd Wehner, brachte es auf den Punkt: »Wir haben eine verwirrende Vielfalt von Ortspolizeien, die häufig nicht miteinander, sondern gegeneinander arbeiten.«
Dass die Kripo wesentlich häufiger als gewünscht auf die Dienste ihres geschätzten Kollegen »Kommissar Zufall« vertrauen musste, hatte auch etwas mit der unzureichenden Ausstattung zu tun. In Schleswig-Holstein war 1966 von einer parlamentarischen Untersuchungskommission festgestellt worden: »Bei der Kripo besteht noch ein erheblicher Mangel an Kraftfahrzeugen; die Funkausstattung ist nicht ausreichend und zum Teil veraltet; die vorhandenen Fernsprechvermittlungsanlagen reichen zum Teil nicht aus; das Fernschreibnetz entspricht nicht den heutigen Anforderungen; die Zahl der Wohnungsdienstanschlüsse (Telefone) der Kripo-Beamten ist zu gering;
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