Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
zurecht. Sie schaute an sich herunter, konnte aber keine Veränderung feststellen. Dann erinnerte sie sich an die Fratze des Mannes, als er über ihr gehockt hatte: das gelbliche Gesicht, die Stirnglatze, die stechenden Augen, die abstehenden Ohren. Die Todesangst kehrte schlagartig zurück. Weil sie nicht sicher einschätzen konnte, ob der Mann noch in der Nähe war, und sie befürchtete, nochmals angegriffen zu werden, stellte sie sich für einige Minuten tot.
Dann atmete sie tief durch, er war offenbar weg. Christa rappelte sich auf und hetzte nach Hause. Immer noch in Todesangst. Sie wollte schreien, aber sie bekam keinen Ton heraus. Erst als sie das Haus der Eltern sah, löste sich die innere Verkrampfung. Eine Nachbarin sah das Kind völlig aufgelöst und laut um Hilfe schreiend in Richtung Wohnung taumeln. Sie verstand erst, als sie die blutunterlaufenen Augen und die Würgemale am Hals des Kindes bemerkte.
Von Weinkrämpfen geschüttelt brach Christa in den Armen ihrer Mutter zusammen. Die Nachbarin alarmierte die Polizei, Christa wurde eine halbe Stunde später in das Marienhospital in Bottrop eingeliefert. Nachdem die Ärzte grünes Licht gegeben hatten, wurde Christa von zwei Beamten der Kripo Recklinghausen vernommen. Sie schilderte – immer noch unter Schock stehend – das Erlebte und beschrieb den Mann, der versucht hatte, ihr das Leben zu nehmen: »Über 40 Jahre alt, faltiges Gesicht, Stirnglatze, Haarkranz hinten, dunkles Haar, 1,80 Meter groß, dünn, schmales Gesicht, gelbliche Gesichtsfarbe, unrasiert, verschwitzte Arbeiterhände, dunkler Anzug, Hose nicht zur Jacke passend, kariertes Hemd, schwarze Schuhe.« Ferner berichtete sie, der Mann habe »verwaschen gesprochen« und »schmuddelig gewirkt«. Die »komische« Ausdrucksweise des Täters deuteten die Beamten als »Ruhrgebietsdialekt«.
Unverzüglich wurde die detaillierte und glaubhafte Täterbeschreibung an alle Polizeidienststellen der Region weitergegeben, eine Großfahndung eingeleitet.
Die behandelnden Ärzte stellten »petechiale (= punktförmige, Anm. d. Autors) Blutungen« an Hals, Gesicht, Augen und hinter den Ohren fest, dazu »ausgeprägte« Würgemale am Hals. Eine genitale Untersuchung blieb »ohne Befund«.
Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen ausführlich über das »Verbrechen am Schöttelbach«. Viele Bottroper Bürger befürchteten für die kommenden Wochen und Monate das Schlimmste, als im Zusammenhang mit dem aktuellen Ereignis an einen anderen Fall erinnert wurde, der exakt ein Jahr zuvor eine ganze Nation wochenlang schockiert hatte. Auch Ursula Enders, Christas Mutter, las mit Wut im Bauch den Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: »Jürgen Bartsch jetzt wegen vierfachen Mordes angeklagt. Psychiater: Reifegrad eines Erwachsenen und voll verantwortlich.« Weiter hieß es: »Die Weichen für den Mordprozeß Jürgen Bartsch sind gestellt. Genau ein Jahr nach der Verhaftung des ›Kirmesmörders‹ erhielten die Wuppertaler Jugendkammer und Bartschs Verteidiger Heinz Möller jetzt die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Vierfacher Mord, Sittlichkeitsdelikte und Kindesentführung sind die Kernpunkte dieser Anklageschrift. Als eine der letzten tragenden Säulen des Anklagegebäudes hat nach den Worten von Oberstaatsanwalt Klein das psychiatrische Gutachten von Prof. Dr. Scheid und Privatdozent Dr. Dr. Bresser zu gelten. Wie Klein in einer Pressekonferenz im 14. Stockwerk des Wuppertaler Landgerichts aus dem 58-Seiten-Gutachten der beiden Psychiater bekanntgab, kann Bartsch als voll verantwortlich für seine Taten gelten. Die Psychiater billigten dem jetzt 20-jährigen den Reifegrad eines Erwachsenen zu. Nur die erste der vier Mordtaten, das Verbrechen an dem achtjährigen Klaus Jung aus Essen, das Bartsch als 15jähriger begangen haben soll, fällt unter das Jugendstrafrecht. Die drei anderen Taten verübte Bartsch – laut Anklage – nach Vollendung des 18. Lebensjahres. Sie werden somit nach dem Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt.«
Jürgen Bartsch war überführt worden. Für Ursula Enders war das nur ein schwacher Trost. Jener Mann, der Christa nach dem Leben getrachtet und ihre Familie in eine Tragödie katapultiert hatte, lief frei herum. Irgendwo. Sie versuchte solche Gedanken nicht zuzulassen, aber sie malte sich aus, was sie und ihr Mann mit ihm machen würden, wenn sie ihn denn in die Finger bekämen.
Die Kripo suchte jetzt auch nach einem weißen Opel Kadett Coupé mit
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