Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
sitzend, weigerte ich mich, mit den anderen Frauen zu tanzen, denn langsam begriff ich, dass mein Leben sich an einem Wendepunkt befand. Doch nicht zum Besseren. Die Jüngsten begannen, ihre Bauchnabel zur Schau zu stellen und sich hin- und herzuwiegen wie in einem kitschigen Videoclip. Hand in Hand erhoben sich die Älteren zu traditionelleren Folkloretänzen, wie man sie in den Dörfern sieht. Zwischen zwei Musikstücken machten sie eine Pause und sprachen mir Grüße aus. Ich gab ihnen einen Kuss, wie es sich gehörte. Doch es gelang mir nicht einmal, ein Lächeln aufzusetzen.
Ich blieb, das Gesicht aufgedunsen vom vielen Weinen, regungslos in einer Ecke des Wohnzimmers sitzen. Ich wollte meine Familie nicht verlassen. Ich fühlte mich noch nicht bereit. Ich vermisste die Schule bereits entsetzlich, und Malak noch viel mehr. Als ich während des Festes dem traurigen Blick meiner kleinen Schwester Haïfa begegnete, begann mir klarzuwerden, dass ich auch sie vermissen würde. Eine Befürchtung erfüllte plötzlich meine Gedanken: Was, wenn auch sie zum selben Schicksal verdammt wäre wie ich?
Bei Sonnenuntergang zogen sich die Gäste zurück, und ich nickte vollständig bekleidet neben Haïfa ein. Meine Mutter kam etwas später zu uns, nachdem sie das Wohnzimmer aufgeräumt hatte. Als mein Vater von seiner Männerversammlung nach Hause kam, waren wir alle schon eingeschlafen. In meiner letzten Nacht als Unverheiratete träumte ich nichts. Ich erinnere mich genauso wenig daran, unruhig geschlafen zu haben. Ich fragte mich lediglich, ob ich am nächsten Morgen wie aus einem bösen Traum erwachen würde.
Als die Sonnenstrahlen gegen sechs Uhr morgens in das Schlafzimmer fluteten, riss mich
Omma
aus dem Schlaf und winkte mich in den kleinen Gang. Wie jeden Morgen verneigten wir uns vor Allah und sprachen dabei das erste
Gebet des Tages. Dann servierte sie mir eine Schale mit
foul
– weißen Bohnen mit Zwiebeln und Tomatensoße, die man zum Frühstück isst – und dazu eine Tasse
chai
– Tee – mit Milch.
Ein kleines Bündel erwartete mich vor der Tür, doch ich tat, als hätte ich es nicht gesehen. Erst als vor dem Haus eine Hupe erklang, musste ich mich in mein neues Leben voller Ungewissheiten fügen. Meine Mutter drückte mich fest an sich und half mir dann, mich in meinen Mantel und ein schwarzes Kopftuch zu hüllen. In den Jahren zuvor hatte ich mich mit einem kleinen bunten Schleier begnügt, wenn ich auf die Straße ging. Es kam sogar vor, dass ich ihn vergaß, doch das kümmerte niemanden. Dann sah ich, wie
Omma
in das Bündel fasste und einen schwarzen
niqab
daraus hervorholte, den sie mir übergab. Bis zu diesem Tag war ich noch nie dazu gezwungen worden, mich vollständig zu verschleiern.
»Von heute an musst du dich verschleiern, wenn du auf die Straße gehst. Du bist jetzt eine verheiratete Frau. Dein Gesicht darf nur dein Mann sehen. Denn sein
sharaf
– seine Ehre – steht auf dem Spiel. Und du darfst seine Ehre nicht beflecken.«
Ich nickte traurig und verabschiedete mich von ihr. Ich war böse auf sie, dass sie mich im Stich ließ, aber ich fand keine Worte, um ihr meinen Schmerz auszudrücken.
Auf dem Rücksitz des Geländewagens, der mich vor der Eingangstür erwartete, saß ein kleiner Mann, der mich anstarrte. Er trug eine lange weiße Tunika, wie
Aba
, und einen Schnurrbart. Sein zerzaustes Haar war kurzgeschnitten und leicht gelockt. Er hatte braune Augen und war schlecht rasiert. Seine Hände waren ölverschmiert. Er war kein schöner Mann. Auf mich wirkte er wie ein Monster. Das also war Faez Ali Thamer, der sich dazu entschlossen hatte, mich zur Frau zu nehmen, dieser Unbekannte, dem ich vielleicht schon einmal in Khardji begegnet war, wohin wir in den letzten Jahren zuweilen zurückgekehrt waren, jedoch konnte ich mich nicht an ihn erinnern.
Mir wurde der Platz auf der ersten Rückbank hinter dem Fahrer zugewiesen, neben vier weiteren Fahrgästen, darunter die Frau vom Bruder meines Mannes.
Sie alle lächelten verkrampft und wirkten nicht sehr gesprächig. Er, der Unbekannte, saß neben seinem Bruder auf der zweiten Rückbank. Ich war etwas beruhigt, dass ich ihm während unserer langen Fahrt nicht ins Gesicht sehen musste. Doch spürte ich seinen Blick auf mir, was mich erschauern ließ. Wer war er eigentlich? Warum hatte er mich heiraten wollen? Was erwartete er von mir? Und was bedeutete Heirat denn eigentlich genau? Auf all diese Fragen hatte ich keine
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