Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Endlich! Obwohl es ziemlich laut zugeht, ist die Atmosphäre doch beruhigend. Ich fühle mich sicher hier. An der mittleren Wand erkenne ich das eingerahmte Foto von »
Amma
Ali«, Onkel Ali. In der Schule hat man mir beigebracht, den Präsidenten unseres Landes, Ali Abdallah al-Salih, vor über dreißig Jahren gewählt, so zu nennen. Manche sagen von ihm, er sei ein Diktator, andere bezichtigen ihn der Korruption. Für mich ist das unwichtig. Ich bin hier, um mit dem Richter zu sprechen. Das ist alles.
Wie die anderen setze ich mich auf einen der braunen Sessel, die an der Wand aufgereiht sind. Draußen ruft der Muezzin zum Mittagsgebet. Rings um mich bemerke ich Gesichter, die ich zuvor im Hof gesehen habe, blicke in vertraute Augen. Manche von ihnen beugen sich zu mir herunter und sehen mich merkwürdig an.
Sieh mal einer an, endlich fällt ihnen auf, dass ich existiere! Wurde auch Zeit. Zufrieden lehne ich mich mit dem Kopf zurück an die Sessellehne und warte geduldig darauf, dass ich an die Reihe komme.
Wenn es einen Gott gibt, dann soll Er kommen und mich retten. Ich habe immer brav meine Gebete gesprochen, fünf Mal am Tag. Während des
Aïdfestes,
das den Fastenmonat Ramadan abschließt, habe ich immer meiner Mutter und meinen Schwestern geholfen, die Speisen zuzubereiten. Ich war immer ein gehorsames Kind. Ich hoffe, Allah hat Mitleid mit mir …
In meinem Kopf wirbeln undeutliche Bilder herum. Ich schwimme im Meer, das ganz ruhig ist. Dann werden die Wellen höher. In der Ferne bemerke ich meinen Bruder Fares, aber es gelingt mir nicht, ihn zu erreichen. Ich rufe ihn, aber er hört mich nicht. Ich rufe lauter, doch da werde ich von den Windböen erfasst und zurück in Richtung Strand geschleudert. Ich wehre mich dagegen und fange wie wild an, mit den Armen zu rudern. Kommt gar nicht in Frage, dass ich mich zum Ausgangspunkt zurücktreiben lasse. Immer heftiger toben die Wellen. Jetzt ist die Bucht schon ganz nahe. Ich habe Fares aus den Augen verloren. Hilfe! Ich will nicht nach Khardji zurück, nein, ich will nicht nach Khardji zurück!
»Was kann ich für dich tun?«
Eine männliche Stimme weckt mich aus meinem Dämmerzustand. Sie klingt seltsam leise. Mehr Lautstärke ist auch nicht nötig, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Stimme hat sich damit begnügt, ein paar Worte zu flüstern. »Was kann ich für dich tun?« Endlich jemand, der mir zu Hilfe kommt. Ich reibe mir über das Gesicht und erkenne den Richter mit dem Schnurrbart. Die Menge hat sich gelichtet, die vertrauten Augen sind verschwunden, und der Raum ist nun fast leer. Da ich noch immer schweige, stellt mir der Richter nochmals die Frage:
»Worauf wartest du?«
Meine Antwort lässt nicht auf sich warten:
»Auf meine Scheidung!«
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2. Khardji
I n Khardji, dem Dorf, in dem ich geboren bin, bringt man Frauen nicht bei, sich frei zu entscheiden. Dort haben die Männer das letzte Wort. Mit ungefähr sechzehn hat meine Mutter Shoya ohne Murren meinen Vater Ali Mohammad-al-Ahdel geheiratet. Und als er vier Jahre später beschloss, die Familie zu vergrößern, und sich eine zweite Frau nahm, fügte sie sich willig den Wünschen ihres Mannes. Mit der gleichen Ergebenheit nahm ich zunächst meine eigene Heirat hin, ohne ihre Tragweite zu erahnen. In meinem Alter stellt man sich nicht allzu viele Fragen.
»Wie macht man Kinder?«, hatte ich eines Tages
Omma
unschuldig gefragt.
»Das wirst du schon sehen, wenn du größer bist!«, hatte sie mir geantwortet und mit einer Handbewegung meine Frage beiseitegefegt.
Ich habe mich gefügt, mir meine kindliche Neugier verkniffen und bin in den Garten zurückgegangen, um mit meinen Brüdern und Schwestern zu spielen. Unser liebster Zeitvertreib war das Versteckspielen. Im Tal von Wadi La’a im Bezirk Hajjah, wo ich geboren bin, gibt es unzählige Schlupfwinkel, in denen wir einfach verschwinden konnten: hohle Baumstämme, schmale Felsspalten, von der Zeit ausgehöhlte Grotten. Wenn wir vom vielen Herumtollen außer Atem waren, stürzten wir uns kopfüber ins frische Gras und schmiegten uns in dieses grüne Nest. Die Sonne nutzte die Gelegenheit, unsere Haut zu streicheln und unsere ohnehin schon braunen Gesichter noch mehr zu bräunen. Wenn wir uns genug ausgeruht hatten, vergnügten wir uns damit, die Hühner zu verscheuchen und die Esel mit Ästen zu necken.
Meine Mutter hatte siebzehn Kinder. Sie hatte drei
Fehlgeburten
erlitten, ohne es jemandem zu sagen, und für
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