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Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Titel: Ich schau dir zu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paule Angélique
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Bürstenschnitt, und trotz ihres Alters – sie war gerade mal Anfang vierzig – war es silbergrau, sicherlich natur. Dünne Ringe zogen den Blick auf ihre schmalen Hände mit gepflegten unlackierten Nägeln. Ihr geschmeidiger Gang unterstrich ihre elegante Erscheinung. Vollkommen harmonisch, dachte ich. Ich sah Harry von der Seite an und war enttäuscht, dass ich in seinem Gesicht keine besondere Reaktion auf Anne Solés Äußeres erkennen konnte.
    Während sie ihm die ersten Layout-Entwürfe zeigte, hielt ich mich die ganze Zeit im Hintergrund, »die Frau von«, perfekt in ihrer Rolle als Begleiterin. Ganz unkonventionell hatte Anne die unterschiedlichsten Kanapees und Sushi vorbereitet, von denen sich jeder nach Belieben nehmen konnte. Im Grunde war mir das lieber als ein endloses Mittagessen, bei dem man eine Unterhaltung in Gang halten musste, bevor man endlich zum eigentlichen Thema kam. Vielleicht bliebe sogar noch Zeit für einen Spaziergang am späten Nachmittag. Ich las die vorrangig wissenschaftlichen Buchtitel der Bibliothek, die mir so ziemlich gar nichts sagten. Eine ganze Wand war mit Zeichnungen bedeckt, von denen die meisten Anne gewidmet waren. Auf großen Arbeitstischen reihten sich Computerbildschirme aneinander, es gab Stapel von kommentierten Unterlagen, Bilder, Schriftproben. Irgendwann schlug sie vor, dass ich mir den Garten ansehen sollte.
    »Wenn Sie Orchideen mögen – hinter dem Haus ist ein Gewächshaus. Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht begleiten kann, die Arbeit ruft. Außerdem begibt man sich besser allein auf die Erkundung der Flora. Aber Vorsicht«, warnte sie mich mit einem gespielt geheimnisvollen Lächeln, »ich sammle auch fleischfressende Pflanzen.«
    Kurzum, sie schickte mich zum Spielen hinaus, während sie mit Harry fachsimpelte. Mir schien, dass die Blicke, die die beiden gebeugt auf die Skizzen warfen, eine übertriebene Annäherung ihrer Körper mit sich brachten. Ich blieb noch einen Moment, wie um zu signalisieren, dass ich zwar gehorsam sein mochte, die Zeit, zu der ich einer Aufforderung Folge leiste, aber immer noch selbst bestimmte.
    »Hast du den Fotoapparat dabei, Harry?«, fragte ich. »Ich meine, die Digitalkamera.«
    »Sie ist im Handschuhfach.«
    Er hatte nicht einmal den Kopf gehoben.
    Das Gewächshaus war in zwei Bereiche unterteilt: Auf einer Seite herrschte Farbharmonie vor – Lila, Hellblau, zartes Rosa und endlose Nuancen von Weiß. Schließlich fand ich Gefallen daran und besah mir die duftigen Blütenblätter. Ich musste mich beherrschen, nicht ihren Flaum und die offenen, willentlich unzüchtig dargebotenen Kronen zu streicheln, die eindeutig an eine entfaltete Vulva erinnerten. Zu dieser verstörenden Kreatürlichkeit kamen noch die verschiedenen Gerüche, die, wie mir schien, jede einzelne Sorte leicht verströmte und die sich vermischten. Die Orchideen waren auf unterschiedlicher Höhe so angeordnet, dass ihre prächtigen Farben jeweils ideal zur Geltung kamen, und sie raschelten in trägem Stolz. Auf der anderen Seite waren hinter einer dicken Glaswand die angekündigten fleischfressenden Pflanzen in einer anderen Art von Exotik versammelt. Dort gab es kein Lila, kein Rosa, auch keinen schneeweißen Flaum, sondern ineinander verschlungenes Dunkelgrün, eigensinnige Lianen, Fallen, die bei Berührung zuschnappten, bauchige Formen, schwangeres Rund, ersonnen von der Zauberin Natur. Drosera, Sarracenia, Heliamphora, jede Pflanze war sorgfältig etikettiert. Ein ganz leises Summen in der Luft verriet die Anwesenheit entsprechenden Futters. Als ich hier eintrat, hatte ich das Gefühl, die Aufteilung des Raums zu durchschauen. Wie die Doppelseite in einem Anatomiebuch zeigte das Gewächshaus die beiden Seiten der weiblichen Welt auf: Beute auf der einen, Täterin auf der anderen. Das Schicksal der Frau. Die schwüle Luft machte sich gleich bei mir bemerkbar. Bei der Temperatur, die um einige Grad höher lag als im benachbarten gemäßigten Bereich, wurde meine Haut feucht. Ich wollte diese Wesen einer anderen Welt fotografieren, bevor sich die Linse ganz beschlug. Ich wagte mich an ein paar Nahaufnahmen, konzentrierte mich auf eindrucksvolle Details wie diesen Mund der Kannenpflanze über einer bauchigen Falle. Ich zog einen Bleistift aus der Tasche und berührte damit die große Öffnung, die auch gleich zur Schließung der Klappe stimuliert wurde. Der zweite Versuch war ein Fehlschlag – mangels echter Nahrung wurde der Reflex nicht

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