Ich schau dir zu: Roman (German Edition)
ausgesprochen aufmerksam. Wir gingen ins Obergeschoss. Byron, der während des ganzen Essens brav dagelegen hatte, war überglücklich, sich bewegen zu können, und folgte uns schwanzwedelnd. Unsere Freunde betrachteten meine Bilder. Ich zeigte sie rasch vor, denn ich wusste, dass sich ein gemütliches Zusammensein nach dem Essen kaum für eine Werkschau eignet. Harry kam mit dem Kaffeetablett. Auf den ersten Blick sah ich nur eines: die Dose mit dem braunen Würfelzucker zwischen den aufgereihten Tassen. Ich hatte sie am Morgen absichtlich mit Weißzucker gefüllt. Dabei dachte ich an Joan Fontaine, die überzeugt ist, dass sie allmählich von Cary Grant vergiftet wird. Als ihr erneut übel wird, trübt sich ihr Blick auf das Glas, das ihr der vermeintliche Mörder reicht. Verdacht heißt dieser Film von Alfred Hitchcock. Mein Verdacht erwies sich schnell als begründet: Kaum hatte Harry die Hand ausgestreckt, um Zucker in seine Tasse zu geben, sprang Byron auch schon an meinen Beinen hoch, stellte sich auf die Hinterpfoten, um mich genau an besagter Stelle zu beschnüffeln, und stieß schnell aufeinanderfolgendes leises Winseln aus. Ich begriff, dass Harry sein Bestes getan hatte, um mich vorzubereiten. Ich schaute ihn flehentlich an. Der Hund ließ nicht locker, er steckte seine Nase zwischen meine Beine und verstand wohl nicht, warum ich ihn dieses Mal daran hindern wollte. Es sah langsam aus wie ein Kampf. Aus Ärger gab ich ihm sogar einen Tritt. Unter meinem Rocksaum fing er an zu bellen, und ich spürte sein heißes Hecheln. Ich fühlte mich mehr erniedrigt, als hätte man mich gezwungen, mich auszuziehen. Hélène und Robert verfolgten diese eigenartige Szene ohne ein Wort. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, werden sie ihren Mutmaßungen wohl freien Lauf gelassen haben.
»Aus, Byron, komm her!«
Harry verkürzte das Ganze und gab dem Hund die Belohnung. Er wollte nur eine Erfahrung machen: mich vor unseren Freunden in eine heikle Situation bringen. Ich fragte mich schon, wie ich den beiden jemals wieder gegenübertreten sollte, ohne an diesen Abend und unsere gegenseitige Verlegenheit zu denken.
W ir sollten Anne Solé zum Mittagessen in Cabourg treffen. Die bekannte Grafikerin verreiste nie. Man kam zu ihr. Harry hatte zwei wichtige Bände über Mythologie in Planung. Er hatte Anne um ihre Mitarbeit ersucht, ohne daran zu glauben. Trotz jahrelanger Bemühungen hatte sein Verlag nur einen kleinen Namen. Nun aber war das Glück auf seiner Seite: Anne Solé hielt große Stücke auf den amerikanischen Universitätsprofessor, unter dessen Ägide dieses Werk Form angenommen hatte. Durch das Sponsoring eines weltbekannten Parfümherstellers standen die Mittel für eine bibliophile Ausgabe bereit, in erster Linie für eine künstlerische Gestaltung.
Ich freute mich, wieder am Meer zu sein. Der Winter neigte sich dem Ende zu. Ausnahmsweise sowohl im Kalender als auch in Wirklichkeit. Wir parkten vor dem Grand Hôtel. Ich hatte es eilig, durch das Foyer zum Strand zu laufen. Vor dem Treffen hatten wir noch mindestens eine halbe Stunde Zeit für einen Strandspaziergang. Es war mild und das Meer von diesem Grün, das einen fahlen, durchgängig verhangenen Himmel reflektiert, allerdings ohne jegliche Bedrohung. Ich füllte meine Lungen und blickte zum Horizont, der noch weiter erschien, nachdem mein Blick zu lange an den Stadtmauern hängen geblieben war. Mit einem flachen Kieselstein schrieb ich unsere Vornamen in riesigen Lettern in den Sand, so riesig wie der Raum, der mir Kraft gab.
»Du bist wirklich ein Kind«, sagte Harry. »Es gefällt mir, dich so zu sehen.«
Und er nahm mich in die Arme.
Ich hätte mir gewünscht, dass er mich küsste. Aber auch das kam nicht mehr vor. Immer gibt es einen Moment, der einen in die Wirklichkeit zurückholt. Es war Zeit, dass wir uns auf den Rückweg machten.
Anne Solés Haus war von einem Park umgeben, in dem bereits üppige Magnolien blühten. Das Tor sprang automatisch auf, wir konnten durchfahren. Mit einem Strauß Narzissen in der Hand empfing sie uns.
»Ich habe sie gerade gepflückt. Sie werden das Mittagessen verschönern.«
Als sie auf uns zukam, konnte ich ihre großgewachsene Gestalt in allen Einzelheiten betrachten. Ein Leinenmantel offen über einer perfekt geschnittenen Pumphose. Ein weicher Schal lag um ihre Schultern und hob sich mit seinem schönen Ockergelb von dem gebrochenen Weiß des Mantels ab. Sie hatte sehr kurzes Haar, fast einen
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