Ich schnapp' mir einen Mann
eine Flasche Terpentin, eine Pistole.
Eine Pistole?! Flora starrte sie an und ließ sie dann in die Tasche
fallen, als wäre sie glühend heiß. Dadurch wurde ihr Blick auf etwas
gelenkt, das ebenfalls in der Tasche steckte. Flora griff vorsichtig
hinein und zog das Ding langsam heraus. Es war ein apfelgrüner,
spitzenbesetzter Slip.
Heiner und Tamara lagen an der von der
zerlöcherten Fensterfront am weitesten entfernten Wand, auf dem Sofa,
das Tamara vor vier Tagen erst hatte hierher schaffen lassen. Sie
hatte, wie Heiner festgestellt hatte, bei all ihrer Kunstbegeisterung
eine durchaus praktische Ader. Das Sofa – blitzneu und
blitzblau – wirkte wie ein seltsamer Anachronismus in der
schmuddeligen, heruntergekommenen Umgebung und dem unvorstellbaren
Chaos aus Farben, Leinwänden, Lappen, Pinseln, Staffeleien und
Flaschen. Es ließ sich mit einem Griff zum komfortablen Bett
umfunktionieren, für den Fall, ›dass es mal später wurde‹. Da es in
letzter Zeit immer häufiger immer später geworden war, hatte Tamara
sogar schon laut daran gedacht, ein paar Ecken weiter ein Apartment
anzumieten. Dann müsste Heiner nicht immer erst nach Hause fahren, wenn
er mit dem Malen fertig war. Und sie hätten eine etwas privatere
Atmosphäre, wenn sie zusammen sein wollten. Sie hätten dann überhaupt
die Möglichkeit, sich öfter zu treffen, nämlich immer, wenn ihnen
danach war, also praktisch jeden Tag.
Die ganze Idee hatte etwas für sich, fand Heiner. Je länger er
darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien sie ihm.
Er und Tamara lagen unter einer zerrupften, mit lila
Ölfarbflecken verzierten Wolldecke, in seligem Morgenschlaf, Arme und
Beine ineinander verstrickt. Tamaras Mähne wallte wie eine dunkle, lila
gesprenkelte Wolke auf dem sattblauen Bezug, ein Anblick, der Heiner in
der letzten Nacht über die Maßen erregt hatte.
Heiner wurde von einer Fliege geweckt, die über seiner Nase
summte.
»Morgen, Flora«, sagte er schlaftrunken zu Flora, die mitten
im Raum stand. »Wie spät ist es?«
»Halb zehn«, sagte Flora.
Flora?!!!
Er war im Nu vom Sofa gesprungen und kam näher.
Splitterfasernackt.
»Hör zu, es ist nicht so, wie du denkst«, leitete er die
älteste Lüge der Welt ein.
Flora stand reglos da, mit absolut unbewegter Miene, still,
hoch aufgerichtet: Eine Rachegöttin. Heiner gingen die Worte aus. Er
konnte sie nur anstarren. Mit der einen Hand umklammerte sie die
Tragegurte von Tamaras Wildlederbeutel, der neben ihr im Staub
schleifte. Mit der anderen umfasste sie den Riemen ihrer eigenen
kleinen Handtasche, die über ihrer Schulter hing. Außerdem hielt sie in
dieser Hand ein apfelgrünes Etwas, das aussah wie …
Heiner erkannte es und schluckte. Wie gebannt starrte er das
Ding in ihrer Hand an. Flora folgte seinen Blicken und ließ den Slip
fallen. Sie zog den dazugehörigen Wonderbra aus der Tasche ihres
Kleides und ließ ihn ebenfalls fallen.
Dann griff sie wie in Zeitlupe in denWildlederbeutel
und holte die Pistole heraus.
»Warte«, sagte Heiner.
Flora legte an und drückte ab. Ein dezentes Klicken ertönte,
eine kleine Flamme sprang aus der Mündung und flackerte fröhlich vor
sich hin. Feuer, der Herr?
Heiner musste lachen, er konnte nicht anders. Er hatte ihr ja
sagen wollen, dass es nur Tamaras Bühnenpistole war und außerdem ein
Feuerzeug, doch sie hatte es allzu eilig gehabt, ihn damit zu
erschießen.
Flora schwebte über dem Geschehen. Sie hatte wieder das
Gefühl, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden. Wie aus weiter Ferne
nahm sie wahr, was als Nächstes geschah. Die Hand der Rachegöttin schob
die Pistole zurück in den Beutel und kam mit der Terpentinflasche
wieder zum Vorschein.
Heiner lachte immer noch, als die Flasche geflogen kam, ein
gläsernes Wurfgeschoss, das eine perfekte Parabel beschrieb, die mitten
auf seiner Stirn endete. Beim Aufprall erklang ein dumpfes, hohl
klingendes Geräusch, und Heiners Augen nahmen einen belämmerten
Ausdruck an, bevor sie zufielen. Langsam, mit einer beinahe anmutigen
halben Drehung, sackte er zusammen und blieb auf dem Fußboden liegen.
Die Flasche war bemerkenswerterweise heil geblieben. Flora hob ihre
Hand, drehte sie, betrachtete sie erstaunt von allen Seiten, als wäre
sie ein fremdes, sonderbares Ding, das sie zufällig irgendwo gefunden
hatte und das mit ihr selbst nicht das Geringste zu tun hatte.
Tamara rührte sich und stöhnte verschlafen. Sie blinzelte und
wurde schlagartig wach, als sie Flora sah. Mit
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