Ich schnapp' mir einen Mann
als hätte ihr jemand einen Rettungsring
zugeworfen und ihn ihr dann wieder entrissen. Niedergeschmettert nahm
sie die Diskette entgegen und ging wortlos zur Tür. Xavier blickte ihr
achselzuckend nach. So war das Leben. Jeder hatte sein Kreuz zu tragen,
nicht wahr?
Er zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und nahm
eins der Playboyhefte heraus. Das Centerfold fiel wie von selbst
heraus, es zeigte ein Geschöpf mit melonenartigen Titten und
bestrapsten Schenkeln. Das Haar des Playmates wellte sich wie bei einem
Rauschgoldengel bis zu den Schultern. Sie hatte was von dieser
schwangeren Möchtegernschriftstellerin. Oder umgekehrt. Egal. Xavier
stand auf, schloss rasch die Tür ab und holte aus der untersten
Schublade eine Rolle Küchenpapier.
Dunkle
Stunden
E s war schon nach zehn Uhr abends, als Anton
endlich nach Hause kam. Schnellberger hatte ihm bereits vor Tagen
bedeutet, dass hoher Einsatz von ihm erwartet wurde. Jedenfalls so
lange, bis er ›richtig Fuß gefasst‹ hatte – was immer das
heißen mochte. Der Vertrag war bis auf ein paar winzige Stellen
unterschriftsreif, und ab dem nächsten Ersten würde Anton stolzer
Sozius sein. Was natürlich nicht ausschloss, dass er sich jetzt schon
wie einer fühlen durfte. So jedenfalls hatte Schnellberger sich
geäußert. Und ihm in entsprechender Menge Fälle zur Bearbeitung
zugeteilt. Viele Fälle.
Es war dunkel in der Wohnung, als Anton die Tür aufschloss. Er
schleppte den schweren Aktenstapel ins Arbeitszimmer, deponierte ihn
auf seinem Schreibtisch und machte dann erst Licht.
»Tamara?«, rief er. Ob sie schon schlief? Er ging ins
Schlafzimmer, doch da war sie nicht. Anton ging nacheinander ins
Wohnzimmer, in die Küche, ins Gästezimmer, ins Bad. Keine Tamara.
Anscheinend hatte sie heute Abend wieder einen dieser späten
Vorsprechtermine, zu denen sie in letzter Zeit so häufig antreten
musste. Die Ärmste. Anton schnürte es das Herz zusammen, wenn er daran
dachte, wie fieberhaft sie seit ihrer abgebrochenen
Schauspielausbildung auf ihre erste Rolle hinarbeitete, ohne dass auch
nur der winzigste Erfolgszipfel sichtbar geworden wäre.
Er machte sich in der Küche ein Schinkenbrot zurecht, goss
sich ein Glas Bier ein und trug beides hinüber ins Arbeitszimmer. Er
sollte lieber gleich anfangen mit der Arbeit; morgen Mittag –
nach drei Gerichts- und zwei Besprechungsterminen – würde ihn
in seinem Büro ein weiterer Stapel erwarten, der mindestens genauso
dick war wie dieser.
Seufzend schlug Anton die erste Akte auf und knipste sein
Diktiergerät an.
Nach der zehnten Akte konnte er sich nicht mehr richtig
konzentrieren. Beim Abhören des letzten Diktats merkte er, dass er für
den Mandanten – einen Steuerstraftäter – dreißig
Jahre Haft beantragt hatte statt einer Geldstrafe von dreißig
Tagessätzen. Er stützte den Kopf in beide Hände. Nur ein paar Sekunden
entspannen, nichts denken. Augen zu, nichts denken …
Als er zu sich kam, merkte er, dass sein Kopf mitten auf der
Akte lag. Aus den Augenwinkeln sah er die Leuchtziffern seiner
Schreibtischuhr. Es war halb drei.
Hatte er eben ein Geräusch gehört?
»Tamara?«, rief er.
Nichts.
Anton stand auf, rieb sich den schmerzenden Nacken und stakste
steifbeinig durchs Arbeitszimmer in den Flur. »Tamara?«
Sie war nicht da. Er musste sich verhört haben. Sicher pennte
sie bei einer Freundin. Das tat sie in letzter Zeit öfter, um ihn so
spät abends nicht stören zu müssen.
Anton ging gleich weiter ins Schlafzimmer und ließ sich voll
bekleidet aufs Bett fallen.
Flora saß hellwach auf ihrer Betthälfte. Sie
hatte Heiners Kopfkissen umklammert und drückte es gegen ihre Brust.
Tränen tropften ungehindert aus ihren Augen und durchnässten den Bezug.
Sie hatte kein Geld, keinen Beruf, keinen Mann (es war drei Uhr nachts
und Heiner war nicht nach Hause gekommen), keine Lust mehr am Leben.
So fühlte sich also ein Mensch, dachte Flora, der wirklich am
Ende ist.
Das Baby bewegte sich und erinnerte sie daran, dass sie trotz
allem Verantwortung trug. Sie stand auf, ging in die Küche und holte
die Tüte mit den Essensresten aus dem Kühlschrank. Das fettige
Hummerviertel erinnerte sie sofort an den grässlichen Armani-Anwalt.
Flora war überzeugt, dass ihr jeder einzelne Bissen im Hals stecken
bleiben würde, hatte doch er ihr das Essen verschafft, in seiner ganzen
perfiden Wohltätigkeit!
Doch natürlich schmeckte ihr alles ungeheuer gut. Flora schob
Stück um Stück der
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