Ich schnapp' mir einen Mann
weinend. »Vielleicht kommt es ja
schon in den Nachrichten.«
Sie drehte das Radio an.
»… handelt es sich nach ersten Auskünften der Behörden bei dem
flüchtigen männlichen Verdächtigen um den Rechtsanwalt Dr. Anton
Winkler, der sich als Verteidiger von Zacharias Ziegler einen Namen
gemacht hat. Zacharias Ziegler, genannt Ziggy der Zigeuner, stand bis
zu seinem kürzlich von den Medien mit großer Aufmerksamkeit verfolgten
Freispruch unter dem Verdacht, der so genannte Betonmörder zu sein. Wir
kommen zum Wetter …«
Flora stellte das Radio ab.
»Wahrscheinlich haben sie es gleich am Anfang gebracht«, sagte
sie schluchzend. »Ach Gott, wie konnte ich ihm das antun! Wie soll ich
das dem Baby erklären?«
Anton starrte das Radio an. »Haben Sie das eben gehört? Was
der Sprecher zuletzt gesagt hat?«
Flora rieb sich mit dem Handrücken Rotz und Tränen aus dem
Gesicht und schaute teilnahmslos auf ihren Bauch. »Die Sache mit Ziggys
Freispruch? Stand doch in jeder Zeitung. Und im Fernsehen kam's auch.
Es lief doch auf allen Kanälen. Und jetzt noch im Radio. Was wollen
Sie? Inzwischen weiß doch jeder, was für 'n toller Anwalt Sie sind.
Soll ich auch noch in das Loblied einstimmen?«
Anton schüttelte den Kopf. Er zitterte wieder, schlimmer als
zu Beginn der Fahrt. »Nicht das über Ziggy. Das davor. Das mit dem
flüchtigen männlichen Verdächtigen. Das hat der Sprecher doch gesagt,
oder? Flüchtiger männlicher Verdächtiger.«
Flora zuckte bloß die Achseln.
Anton bremste, völlig außer sich. Er hatte sich verhört. Hatte
sich bestimmt verhört. Vielleicht war es auch ein kurzer Moment
unbewusster Wahrnehmungsstörung gewesen, bedingt durch den permanenten
Stress seit dem Überfall. Ja, das wäre eine ausgezeichnete und vor
allem plausible Erklärung.
Nein, räumte Anton sich selbst gegenüber sofort ein, es war
nichts weiter als Unfug. Er hatte von jeher hervorragende Ohren und ein
noch besseres Gedächtnis gehabt. Wenn er unter Stress stand,
funktionierte beides womöglich noch perfekter als sonst. Er hatte genau
das gehört, was er zu hören geglaubt hatte. Der Sprecher hatte folglich
exakt das gesagt, was er gehört hatte.
Der BMW kam abrupt zum Stillstand.
»He!«, rief Flora. »Was soll das?«
»Ich muss das jetzt genauer wissen«, sagte Anton verstört.
»Sofort.«
»Was denn?«
»Ein Fernseher. Ich brauche einen Fernseher.«
»Mein Gott, was sind Sie bloß für ein Egomane!«
»Bitte«, flehte Anton mit Tränen in den Augen. »Ich will doch
nur irgendwo Nachrichten sehen!«
Flora fühlte, wie ihr Widerstand schmolz. Sie hatte noch nie
jemanden heulen sehen können. Der Grund für die Tränen war ihr dabei
ganz egal. Es konnte die Trauer über den Tod des geliebten
Wellensittichs sein, Angst vorm Fliegen, Frust wegen einer verpatzten
Prüfung. Oder, wie bei diesem Anwalt, rettungslos übersteigertes,
unbefriedigtes Geltungsbedürfnis. Tränen machten sie einfach schwach.
»Nehmen wir mal an, ich gestatte es Ihnen«, sagte sie. »Wie
genau stellen Sie sich das vor? Sie sind doch meine Geisel. Ich meine,
ich brauch doch den Wagen! Ohne Wagen wäre ich völlig aufgeschmissen.
Da kann ich genauso gut gleich zur Polizei gehen.«
Keine schlechte Idee, dachte Anton. »Ich gebe Ihnen die
Schlüssel und die Fahrzeugpapiere«, schlug er vor. »Außerdem haben Sie
ja die Pistole. Sie können mitgehen und mich in Schach halten. Wenn ich
einen Fluchtversuch mache, erschießen Sie mich einfach.«
Flora war noch nicht überzeugt. Anton merkte es und ließ seine
Stimme noch eine Spur eindringlicher klingen. »Ich gebe Ihnen auch
meine Brieftasche als Pfand, wenn Sie wollen.«
»Ich dachte, Sie haben kein Geld dabei.«
»Aber jede Menge Kreditkarten«, versicherte Anton. »Bitte! Ich
schwöre auf das Grundgesetz, dass ich nicht versuche, abzuhauen! Nur
einmal ganz kurz die Fernsehnachrichten! Bitte!«
»Ich weiß nicht«, wandte Flora unsicher ein. »Wo sollen wir
denn jetzt auf die Schnelle einen Fernseher herkriegen?«
In Anbetracht der Umstände konnte Anton sich
nicht beschweren. Er hatte nicht nur einen Fernseher zur Verfügung,
sondern mindestens zwei Dutzend. Ein paar standen im Verkaufsraum
verteilt, doch die meisten waren entlang den Wänden angebracht.
Der große Elektro- und Heimwerkermarkt war gut besucht, und
wenn Anton es darauf anlegte, wäre es für ihn trotz des harten
Pistolenlaufs an seinen Rippen bestimmt nicht schwierig, sich mit einem
raschen Hechtsprung in Sicherheit
Weitere Kostenlose Bücher