Ich schnapp' mir einen Mann
von rund achthunderttausend. Der Mandant war
einer der wichtigsten Klienten der Kanzlei, und nicht nur das, er
fieberte seit Monaten der Entscheidung entgegen, die von größter
Bedeutung für die geordnete Weiterentwicklung seiner Geschäfte war.
Anton konnte diesen Termin nicht einfach versäumen!
»Wo soll ich Sie absetzen?«, fragte er beiläufig.
Flora gab keine Antwort. Sie heulte stumm vor sich hin.
In der Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Anton lauschte,
voll verzweifelter Hoffnung, dass sie sich näherten. Doch sie
entfernten sich.
»Hören Sie«, sagte Anton. »Ich habe heute Vormittag noch einen
äußerst wichtigen Gerichtstermin. Zwei Termine, um genau zu sein.
Eigentlich waren es drei, doch der erste ist leider geplatzt. Weil ich
nicht da war, verstehen Sie? Ich würde Sie gern irgendwo rauslassen.
Sie müssen mir nur sagen, wo. Ich fahr Sie hin.«
Sein Unmut wuchs, und er ließ jede Vorsicht fahren. »Warum
musste auch der blöde Automat kaputt sein? Warum musste ausgerechnet
heute Morgen mein Bargeld alle sein? Warum hatte ich keine Tabletten
mehr? Ich hätte doch einfach bloß …«
»Seien Sie still«, fiel Flora ihm ins Wort.
Er hörte die unterdrückte Verzweiflung in ihrer Stimme und sah
sie von der Seite an. »Waren Sie schon mal in einem Frauenknast? Nein?
Ich schon. Ich habe da Frauen kennen gelernt, die dort ihre Kinder
bekommen haben. Es gibt mehr schwangere Straffällige, als manch einer
glauben würde. Wissen Sie, wie das funktioniert? Ich weiß es. Wir leben
in einer Zeit, in der es als verpönt gilt, Mutter und Kind einfach zu
trennen. Man hält das für unmenschlich. Also tut man es nicht. Die
Kleinen leben mit ihren Müttern in der Zelle. Manchmal für Jahre. Sie
wohnen im Knast. Essen Knastessen, spielen Knastspiele. Das Erste, was
diese Kinder lernen, ist, dass jede Tür, durch die sie gehen, hinter
ihnen zugeschlossen wird. Manche der größeren Kinder tun das noch Jahre
später, auch wenn sie und ihre Mütter längst wieder draußen sind: Türen
hinter sich absperren. Wissen Sie, was mal eine dieser Mütter zu mir
sagte? Es ist wie lebendig begraben sein.«
»Halten Sie die Klappe!«, schrie Flora.
»Ach, kommen Sie. Sie sind doch gar nicht der Typ für so was.
Wie heißen Sie?«
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Flora wollte nicht hören, was er
erzählte. Sie wollte die Bilder nicht sehen, die seine Worte in ihr
wachriefen. Er log sie doch bloß an. Ganz bestimmt schwindelte er, was
das Zeug hielt, nur um sie einzuschüchtern.
Doch in einem Winkel ihres Verstandes ahnte sie, dass er die
Wahrheit sagte, und das machte alles nur noch viel schlimmer. Kein
Mensch konnte sich das ausdenken, mit den Knastkindern, hinter denen
die Türen abgesperrt wurden.
Unvermittelt brach die Erkenntnis über sie herein, dass ihr
Leben zerstört war. Und, was ungleich schrecklicher war: Das Leben
ihres Babys dazu. Wie hatte das alles nur passieren können? Wie war es
nur gekommen, dass sie auf einmal in dieser Bank stand und die Pistole
herauszog? Bis zu jenem Augenblick war alles in ihrem Gedächtnis
verschwommen, von dem Moment an, als die Flasche einen blitzenden
gläsernen Bogen durch die Luft beschrieben hatte und gegen Heiners Kopf
geknallt war. Danach gab es nur noch diffuse Bilder, von Straßen und
Häusern, von Menschen, gegen die sie unterwegs gestolpert war. Zuletzt
eine nette alte Frau mit einem mickrigen Hund. Doch all das war weit
weg.
Erst seit dem Moment, als der Anwalt sich in der Bank zu ihr
umgedreht hatte, war alles wieder klar. Schmerzhaft klar. Danach hatte
sie nur das zu Ende geführt, was sie bereits begonnen hatte. Wer A
sagt, muss auch B sagen.
Sie hatte in der sicheren Gewissheit gehandelt, dass sie
nichts Schlimmeres tun könnte, als das, was sie ohnehin schon auf dem
Kerbholz hatte. Sie war eine Mörderin. Sie hatte den Vater ihres Kindes
auf dem Gewissen.
»Mein Name ist Anton Winkler«, sagte Anton sachlich. »Ich bin
Anwalt.«
»Ich weiß«, flüsterte Flora.
»Ich kann Ihnen helfen.«
»Mir kann keiner mehr helfen«, brach es aus ihr heraus. »O
Gott! O mein Gott!!! Ich hab ihn umgebracht!«
Die Pistole zeigte in eine andere Richtung, weg von ihm, wie
Anton schwach vor Erleichterung feststellte. Er wusste genug über
Täterpsychologie, um angemessen auf diese Situation reagieren zu
können. Bring sie zum Reden. Zeige Anteilnahme. Vor allem
aber – bring sie zum Reden! Wer redet, schießt nicht.
»Wen?«, fragte er.
»Heiner«, sagte sie leise
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