Ich sehe dein Geheimnis
mir ein Gefühl von Freiheit, das mir sehr gefiel.
Gabriel setzte mich ab und brauste davon. Ich ging Richtung Haus, als gerade ein Kunde herauskam. Als er näher kam, sah ich, dass es kein Kunde war, sondern Phil Tisdell, der mit gebeugtem Rücken und konzentriert auf den Boden gerichtetem Blick den Gehweg entlang trottete.
»Hallo«, begrüßte ich ihn lächelnd. »Wie geht’s?«
Er winkte mir halbherzig zu. »Hallo, Clare. Bis morgen Abend.«
So niedergeschlagen hatte ich Phil noch nie gesehen. Normalerweise stellte seine jovial-freundliche Art sogar den Weihnachtsmann in den Schatten. Statt seiner üblichen zerknitterten Kleidung trug er heute ein gebügeltes blaues Hemd und eine Anzughose. Un d roch er etwa nach Parfum?
»Was ist morgen Abend?«, fragte ich.
»Das Bankett?«
Ich sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Meine Antwort schien ihn noch trauriger zu machen. Er seufzte. »Das Jahresbankett der Handelskammer von Eastport. Es findet morgen Abend statt. Starla sagte, du gingest mit ihr hin.«
Dann begriff ich: Er hatte Mom gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sie hatte abgelehnt und mich als Ausrede benutzt. Ich würde sie erwürgen. Aber zuerst würde ich ihre Lügengeschichte stützen.
»Ach, das! Ich wusste nicht, dass es ein festliches Bankett ist. Ich dachte, es ginge nur um ein kleines Treffen. Muss ich ein Kleid tragen? Mom hat mir gar nicht gesagt, dass ich mich schick machen muss.« Die Lüge ging mir leicht über die Lippen und mein wütendes Gesicht musste ich nicht einmal spielen. Ich wusste nicht, ob Phil mir glaubte, aber er murmelte, er würde mich dort sehen, und trottete davon. Und ich stürmte ins Haus.
»Mom!«
»Kein Grund, so zu schreien, Liebling.« Mom kam aus der Küche. Sie trug ein Kleid, das aussah, als habe sich ihre Nähmaschine übergeben. »Was gibt’s denn so Dringendes?«
»Hast du das selbst genäht?« Ich deutete auf die entsetzliche Kreation.
Mom drehte sich vor mir um die eigene Achse. »Ja, habe ich. Es ist ein Patchwork-Sommerkleid. Ich überlege, mehr davon zu nähen und sie über das Internet zu verkaufen. Also, warum schreist du so?«
»Ich habe Phil Tisdell vor der Tür getroffen.«
»Oh.« Sie sauste an mir vorbei zurück zur Küche. Ich folgte ihr. So leicht würde sie aus dieser Nummer nicht herauskommen.
Unsere Küche war relativ modern für ein so altes Haus. Wir hatten sie vor ein paar Jahren renoviert und mit einer Kochinsel und neuen Edelstahlgeräten ausgestattet. Mom hatte darauf bestanden, die Schränke knallgelb zu streichen, weil die Küche für sie ein Ort der Freude war.
Auf Zehenspitzen holte sie eine große Schüssel aus einem der freudvollen Schränke. »Ich mache Couscous. Möchtest du mitessen?«
»Nein«, antwortete ich. Ich wusste nicht einmal, was das war. »Du hast ihn angelogen, Mom.«
Sie durchsuchte eine Schublade. »Hätte ich stattdessen seine Gefühle verletzen sollen?«
»Und du hast mich in deine Lüge einbezogen. Jetzt muss ich mit dir zu diesem Bankett gehen, damit er nicht noch mehr verletzt wird.«
Sie durchwühlte weiter die Schubladen, um mich nicht ansehen zu müssen. »Ist es denn so schrecklich, einen Abend mit deiner eigenen Mutter zu verbringen?«
»Darum geht es nicht, Mom.« Mental stellte ich mich auf den nächsten Satz ein, den ich mir lange genug verkniffen hatte. »Du kannst interessierten Männern nicht dein Leben lang ausweichen.«
Sie sah mich an. »Was soll das heißen?«
»Was passt dir denn an Phil nicht?«
»Es gibt nichts, das mir an ihm nicht passt.«
»Eben. Er ist freundlich. Er ist nett. Er ist völlig verrückt nach dir. Er ist ganz süß für einen älteren Mann. Kahlköpfige gelten doch heutzutage als sexy.«
»Clarity, das trifft tatsächlich alles auf Phil zu, und wenn ich Interesse an einem Mann hätte, dann wäre das ganz sicher Phil. Er ist ein wundervoller Mann. Aber du weißt, wie es ist.«
»Nein, das weiß ich nicht. Erkläre es mir bitte.«
» Ich will nicht mehr darüber reden.« Sie beugte sich über ihr Kochbuch und tat, als würde sie lesen.
»Du wartest immer noch darauf, dass Dad zurückkommt.«
»Kannst du mir bitte das Mehl oben aus dem Schrank holen? Du bist ein bisschen größer als ich.«
Innerlich zitterte ich. Ich wusste, dass ich mich dicht an einer Grenze bewegte, die ich nie zuvor überschritten hatte. Ich fasste sie sanft am Kinn und drehte ihren Kopf zu mir, sodass sie mir in die Augen sehen musste. »Es ist
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