Ich sehe dein Geheimnis
trat zögernd an den Truck heran. »Mal sehen, was ich tun kann.«
Billy saß auf dem Fahrersitz. Ich war keine Medizinerin, aber es war klar, dass die Todesursache das Einschussloch in seiner Stirn war.
Zwar hatte ich noch nie eine echte Leiche gesehen, aber schon viele im Fernsehen. Überraschenderweise sah Billy genauso aus. Wie ein Schauspieler, der einen Toten verkörperte. Nur dass ich wusste, dass hier alles echt war. Er war kein Schauspieler. Er war jemand, den ich fast mein ganzes Leben lang gekannt hatte. Jemand, den ich gehasst hatte. In manchen Momenten waren seine Hänseleien so schlimm gewesen, dass ich mir seinen Tod gewünscht hatte. Aber wenn ich ihn jetzt so sah, war ich nicht glücklich, sondern traurig. Auch wegen seiner Eltern. Und ja, sogar wegen Fran kie.
Gabriel beobachtete mich mit ernster Mine. Ich reichte ihm den Regenschirm, ging um das Auto herum und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich musste verdrängen, dass ich neben einer Leiche saß. Ich berührte alle Stellen, die auch ein Beifahrer angefasst haben musste: den Gurt, die Polster aus aufgeplatztem Leder, das Armaturenbrett. Nichts.
»Ich glaube, er hatte keinen Beifahrer«, sagte ich durch die offene Tür zu Gabriel.
Zunehmend frustriert ging ich zurück auf die Fahrerseite und machte weiter. Dabei versuchte ich, Billy möglichst zu ignorieren. Zuerst fand ich nichts heraus, doch dann lehnte ich mich über die Leiche und umfasste das Lenkrad. Plötzlich …
»Ich sehe Billy fahren«, flüsterte ich. Gabriel sah mir über die Schulter.
»Hier auf dem Feldweg?«
»Ich weiß nicht. Das ist undeutlich. Aber seine Gedanken sind klar.«
»Was denkt er?«
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Vision so lange wie möglich festzuhalten. »Er ist erwartungsvoll und ängstlich. Er glaubt, die Sache könne gut ausgehen, hält es aber genauso für möglich, dass sein Plan nach hinten losgeht.«
Ich schwieg und konzentrierte mich wieder.
»Was jetzt?«, fragte Gabriel. »Was denkt er?«
»An seine Eltern. Dass er sie enttäuscht hat, weil nichts aus ihm geworden ist.«
Die Vision verschwamm. Ich ließ das Lenkrad los und mein Herzschlag verlangsamte sich. »Verstehst du, was das heißt?«
Gabriel dachte nach. »Ich glaube, er wollte den Mörder erpressen. Aber der hat die Sache selbst in die Hand genommen und Billy erschossen.«
Der Regen ließ nach, aber mittlerweile hatte sich dichter Nebel über den Wald gelegt und ließ ihn gespenstisch leuchten. In dem grauen Nichts zwischen den Bäumen könnte sich alles und jeder verstecken.
Hinter uns im Wald knackte ein Zweig. Gabriel fuhr herum und spähte in Richtung der Bäume, entdeckte aber nichts.
»Wir sollten jetzt besser gehen«, sagte er.
Dann knackte es wieder – diesmal etwas leiser, jedoch gefolgt von einem Schlurfen. Es lief mir kalt den Rücken hinunter.
»Da draußen ist jemand«, sagte Gabriel und ging in den Wald.
Ich folgte ihm blind und streckte die Hände aus, um nicht gegen einen Baum zu laufen. Durch den Nebel konnte man nicht sehr weit sehen und schon bald hatte ich Gabriel aus den Augen verloren. Allein wollte ich nicht noch tiefer in den Wald vordringen und so ging ich in Richtung des Feldwegs zurück. Als ich den Truck schon sehen konnte, wurde der Regen wieder stärker. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht über eine Wurzel oder einen abgebrochenen Ast zu stolpern.
Plötzlich hielt ich inne. Unter einem Baum entdeckte ich einen Fußabdruck, der sich bereits im starken Regen auflöste.
War hier vor ein paar Minuten jemand gewesen, der sich hinter dem Baum versteckt und uns ausgespäht hatte?
Ich legte meine Hand auf den Stamm. Die Rinde fühlte sich feucht und schleimig an. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Nur einen Moment später trat eine Vision an die Oberfläche. Sie schimmerte, als sähe ich sie durch einen Wasserschleier. Ich konzentrierte mich noch stärker, und sie wurde etwas deutlicher. Dann blieb mir die Luft weg.
Ich sah mich selbst.
Ich sah, wie ich mich in den Truck beugte und meine Hände auf das Lenkrad legte.
Mir schauderte. Die Vision verschwand. Ich riss die Hand von der Baumrinde, als ekelte ich mich.
Jemand hatte mich beobachtet. Und wusste jetzt, dass ich an den Ermittlungen beteiligt war.
Ich hörte ein Keuchen hinter mir und fuhr herum. Gabriel bremste seinen Lauf und versuchte vornüber gebeugt, wieder zu Atem zu kommen. »Ich bin überall
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