Ich Töte
klebte ich das Etikett meines Ladens darauf, als würde ich mich so nicht vollständig von ihr trennen. Die Platte war eines der wenigen Dinge, die während meines ganzen Lebens wirklich zu mir gehörten, abgesehen von meiner Frau und meinem Sohn. Drei Dinge gehören zum wahren Glück im Leben eines Menschen.«
Nicolas Hulots Herz schlug wie der einzige Kolben in einem Motor mit riesigem Hubraum. Seine Worte kamen sehr deutlich. Er 364
stellte eine Frage, und der Tonfall seiner Stimme war der eines Mannes, der die Antwort fürchtet.
»Erinnerst du dich noch, wem du sie verkauft hast, Jean-Paul?«
»Seither sind ungefähr fünfzehn Jahre vergangen, Nicolas. Ich weiß noch, dass der Kunde ein seltsamer Typ war, mehr oder weniger in meinem Alter. Er kam in den Laden und kaufte Platten, seltene Exemplare für Sammler. Geldprobleme schien er nicht zu haben, deshalb kann ich ruhig zugeben, dass ich ihn bei manchen Scheiben ganz schön beschissen habe. Als er von meiner Kopie von ›Stolen Music‹ erfuhr, hat er mich monatelang bedrängt, dass ich sie ihm abtrete. Ich habe mich immer gesträubt, aber dann, wie schon gesagt
… Not macht aus Menschen Diebe. Oder Verkäufer. Manchmal auch beides in einem.«
»Fällt dir irgendein Name ein?«
»Ich bin ein Mensch und kein Computer. Auch wenn ich tausend Jahre leben würde, könnte ich diese Platte nicht vergessen. Aber was den Rest angeht …«
Er fuhr sich mit der Hand durch die weißen Haare und sah hoch zur Decke. Nicolas lehnte sich auf die Tischplatte und beugte sich zu ihm vor.
»Ich brauche dir nicht zu sagen, wie wichtig das sein kann, Jean-Paul. Davon können Menschenleben abhängen.«
Hulot fragte sich, wie oft er diese Formulierung noch würde gebrauchen müssen, wie oft er noch irgendjemanden auf die Wichtigkeit von irgendetwas würde aufmerksam machen müssen, um andere Menschen zu retten, bevor das alles vorbei sein wurde.
»Vielleicht …«
»Vielleicht was?«
»Komm mit. Mal sehen, ob du Glück hast.«
Er folgte Jean-Paul aus der Küche, beobachtete die für sein Alter ungewöhnlich geraden Schultern und die vollen weißen Haare im Nacken, während ihm eine leichte Brise den Duft seines Deos zutrug. Im Flur gingen sie nach links, und der Mann betrat die Kellertreppe.
Nach ungefähr zehn Stufen erreichten sie das, was der Mehrzweckraum des Hauses sein musste.
Auf der einen Seite stand eine Waschmaschine neben einem Waschbecken, dann eine Werkbank für Heimarbeiten mit einem Schraubstock und ein paar Werkzeugen zur Holz- und Metallbearbeitung, an der Wand aufgehängt ein Damenrad.
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Auf der anderen Seite eine Reihe Metallregale mit Konservenbüchsen und Weinflaschen. Ein Teil war von Aktenordnern und Kisten verschiedener Größen und Farben belegt.
»Ich bin ein Mann der Vergangenheit. Ich bin Sammler. Und fast alle Sammler sind dumme Nostalgiker, außer wenn sie Geld sammeln.«
Jean-Paul Francis blieb eine Weile vor einem Regal stehen und sah es unschlüssig an.
»Hm, dann schauen wir mal …«
Er traf seine Wahl und holte vom obersten Brett eine blaue, ziemlich große Schachtel. Auf dem Deckel klebte das goldene Etikett seines ehemaligen Plattenladens namens Disque à Risque. Er stellte sie auf die Werkbank neben den kleinen Schraubstock und knipste die darüber hängende Lampe an.
»Das ist alles, was von meinen Geschäften und von diesem Lebensabschnitt übrig geblieben ist. Bisschen wenig, findest du nicht?«
Manchmal ist selbst das zu viel, dachte Nicolas. Es gibt Menschen, die brauchen am Ende einer Reise nicht mal eine Schachtel, egal, ob groß oder klein. Eisweilen sind allein die Taschen schon mehr als genug.
Jean-Paul öffnete die Kiste und begann, darin zu wühlen, kramte Blätter heraus, die alte Lizenzen oder Konzert- und Messebroschüren zu sein schienen.
Plötzlich fischte er einen blauen Zettel heraus, faltete ihn auf, um zu sehen, was darauf stand, dann reichte er ihn Nicolas.
»Hier. Heute ist dein Glückstag. Diesen Zettel hat der Käufer von
›Stolen Music‹ höchstpersönlich geschrieben. Er hatte mir seine Nummer gegeben, als er erfuhr, dass ich eine Kopie besitze. Wenn ich jetzt so überlege, nachdem ich ihm die Platte verkauft hatte, kam er noch ein paarmal, danach habe ich ihn nie mehr gesehen …«
Nicolas las, was auf dem Zettel stand. In kräftiger und gleichzeitig präziser Handschrift waren ein Name und eine Telefonnummer notiert.
Legrand 04/4221545.
Für Hulot war es ein seltsamer Moment. Nach
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