Ich Töte
hinuntergegangen, umweht von einer steifen Brise, die ihre Kleider flattern ließ.
Am Hafen waren sie von einer Vielzahl von Schiffsmasten und Segeln empfangen worden. Im Hintergrund sahen sie den Leuchtturm mit der grün glänzenden Kuppel, und jenseits der zum Schutz des Landungsstegs angebrachten Zementpfeiler erblickten sie das offene Meer.
Sie hatten ein Eis gegessen und waren mit einem Ausflugsboot zu den calanques gefahren, diesen engen, steil zum Meer abfallenden Felsbuchten, wie französische Fjorde, mit reinem und klarem Wasser. Während der Fahrt hatte er den Seekranken gespielt, und Celine und Stephane hatten sich kaputtgelacht über seine Grimassen, seine verdrehten Augen und vorgetäuschten Brechreize. Dass er Polizeibeamter war, hatte er völlig vergessen, und er war nur noch Ehemann, Vater und Clown gewesen.
Papa, hör auf, ich sterbe vor Lachen.
Hulot dachte an die Regie des Seins. Wer Drehbücher schrieb, hatte bisweilen einen bizarren und makabren Sinn für Humor. Während er vor etlichen Jahren durch die Straßen der Kleinstadt geschlendert war, mit seiner Frau und seinem Sohn, glücklich und gedankenverloren, bekam vielleicht genau im selben Moment ein Mann von irgendwoher einen Anruf, in dem der Betreiber eines Plattenladens aufgrund seiner persönlichen Notsituation einwilligte, eine höchst seltene Pressung zu verkaufen. Vielleicht waren sie bei ihrem Spaziergang dem Mann über den Weg gelaufen. Vielleicht waren sie, aus Cassis kommend, sogar eine Zeit lang seinem Wagen gefolgt, als er nach Aix fuhr, um sich die Platte zu holen.
371
Am Stadtrand angekommen, parkte er zusammen mit seinem Auto die Erinnerungen an vergangene, glückliche Zeiten. Vom obersten Deck des Parkturms, in dem er seinen 206er abgestellt und das ein blaues Schild »Parking de la Viguerie, 310 Stellplätze« getauft hatte, ließ er seinen Blick schweifen.
Cassis hatte sich, gemessen an seiner Erinnerung, nicht sehr ver
ändert. Die Betonpfeiler am Hafen waren verstärkt worden, das eine Haus war renoviert, das andere verfallen, aber es gab genügend Kalk und Lack, um die Touristen das Verrinnen der Zeit vergessen zu lassen.
Im Grunde war das der Sinn von Urlaub, vergessen …
Er fragte sich, wie er vorgehen sollte. Das Einfachste wäre, Informationen bei der örtlichen Polizei einzuholen, aber seine Ermittlungen waren zu einer Art Privatangelegenheit geworden, und er wollte es nach Möglichkeit vermeiden, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Andererseits konnte jemand, der durch die Gegend lief und Fragen stellte, auch in einem überfüllten Touristenort am Meer nicht ewig unbemerkt bleiben. Im Grunde war es ein kleines Kaff, in dem sich alle kannten, und er würde mittendrin herumbuddeln.
Dieselbe Gasse, die er jetzt zum Hafen nahm, war er damals auch mit seiner Familie gegangen. Ein alter Mann, der einen Weidenkorb mit Seeigeln trug, kam ihm langsam entgegen. Hulot blieb stehen und hielt ihn an. Entgegen seinen Erwartungen war der alte Mann nicht im Mindesten außer Atem.
»Entschuldigen Sie …«
»Was ist?«, fragte der alte Mann ziemlich barsch.
»Ich brauchte eine Information, bitte.«
Er setzte den Korb mit den Seeigeln ab und sah sie an, als befürchte er, sie könnten schlecht werden. Notgedrungen hob er die Augen, die von zwei buschigen, noch schwarzen Augenbrauen überragt wurden.
»Sagen Sie schon.«
»Kennen Sie einen Gutshof, der La Patience heißt?«
»Ja.«
Hulot erwog einen Moment, ob sein Respekt alten Leuten gegen
über wirklich größer war als die tiefe Verärgerung über Vollidioten, seien sie jung oder alt. Seufzend beschloss er, sich nicht aufzuregen.
»Wären Sie so freundlich und würden mir erklären, wo der liegt.«
Der Alte zeigte mit seiner Hand auf einen unbestimmten Punkt 372
hinter den Häusern.
»Er liegt außerhalb der Stadt.«
»Das dachte ich mir schon …«
Hulot musste sich zusammenreißen, um dem Mann nicht an die Gurgel zu springen. Er wartete geduldig, dennoch legte sein Gesichtsausdruck seinem Gesprächspartner wohl nahe, den Bogen nicht zu überspannen.
»Sind Sie mit dem Auto unterwegs?«
»Ja, ich bin mit dem Auto hier.«
»Dann fahren Sie die Umgehungsstraße aus dem Ort raus. An der Ampel rechts, Richtung Roquefort. Wenn Sie ein Rondell erreichen, sehen Sie wiederum rechts den Wegweiser ›Les Janots‹. Von dieser Straße geht gleich links ein Schotterweg ab, auf dem man zu einer Steinbrücke gelangt, die über die Bahngleise führt. Den
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