Ich Töte
heraus. Hulot bewegte sich in seine Richtung und überlegte, als was er sich vorstellen sollte. Wie oft bei Schauspielern und Polizisten, diesen Meistern der Lüge, beschloss er, der spontanen Eingebung und der Improvisation zu vertrauen.
Er ging auf den Mann zu, der sich mittlerweile genähert hatte.
»Guten Tag.«
»Guten Abend.«
Hulot betrachtete die Sonne, die sich auf einen großartigen Sonnenuntergang vorbereitete, und ihm wurde bewusst, dass er nicht bemerkt hatte, wie die Zeit verstrich.
»Sie haben Recht, guten Abend. Hören Sie …«
Er zögerte einen Moment, dann beschloss er, nur ein neugieriger Tourist zu sein. Er versuchte, ein möglichst harmloses Gesicht aufzusetzen.
»Sind Sie der Friedhofswärter?«
»Ja.«
»Im Dorf habe ich eine ganz schreckliche Geschichte gehört, die 381
sich hier vor einiger Zeit zugetragen hat, die mit …«
»Meinen Sie die Sache mit La Patience?«, unterbrach ihn der Wärter.
»Genau die. Ich habe mich gefragt, ob es wohl möglich wäre, einen Blick auf die Gräber zu werfen? Reine Neugier.«
»Sind Sie Polizist?«
Nicolas war verwirrt. Er sah den Mann vor sich an, als sei ihm schlagartig ein drittes Nasenloch gewachsen. Sein Gesichtsausdruck versicherte dem anderen, ins Schwarze getroffen zu haben, und entlockte ihm ein halbes Lächeln.
»Keine Sorge, es steht Ihnen nicht auf der Stirn geschrieben. Ich war nur früher mal ein ziemlicher Chaot und hatte des Öfteren mit der Polizei zu tun, deshalb erkenne ich euch sofort …«
Hulot stimmte weder zu, noch leugnete er offiziell.
»Sie möchten die Graber der Legrands sehen, nicht? Kommen Sie.«
Er stellte keine Fragen. Diesen Mann hatte eine turbulente Vergangenheit hierher verfrachtet in dieses Dorf, wo es Leute gab, die alles wissen wollten, und solche, die nichts wissen wollten, und es war klar, für welche Seite er sich entschieden hatte.
Er folgte ihm bis zur Treppe unterhalb der Terrassen. Sie stiegen ein paar Stufen hoch, und am ersten Absatz bog der Wärter nach links. Er blieb an einer Reihe benachbarter Gräber stehen. Hulot ließ seinen Blick über die Grabsteine auf dem Boden schweifen, die leicht schräg nach oben gerichtet waren. Jeder trug eine sehr einfache Inschrift, einen Namen und ein Datum.
Laura de Dominicis 1943-1971
Daniel Legrand 1970-1992
Marcel Legrand 1992
Francoise Mautisse 1992
Auf den Grabsteinen waren keine Fotos. Ihm war aufgefallen, dass ziemlich viele keine hatten. Es kam ihm nicht besonders merkwürdig vor, aber er hätte lieber Gesichter gehabt, um sie sich einzuprägen und einen Anhaltspunkt zu haben.
Anscheinend konnte der Wärter Gedanken lesen.
»Auf den Grabsteinen sind keine Fotos, weil bei dem Feuer alle verbrannt sind.«
»Und warum steht nur bei zweien das Geburtsdatum?«
382
»Das waren Mutter und Sohn. Und bei den anderen beiden haben sie es, glaube ich, nicht mehr rechtzeitig geschafft. Und danach …«
Seine Gestik deutete an, dass danach niemand mehr daran interessiert gewesen war, die Daten anbringen zu lassen.
»Wie ist es passiert?«, fragte der Kommissar, ohne den Blick von den Marmortafeln abzuwenden.
»Schlimme Geschichte, nicht nur wegen der Sache an sich. Legrand war ein komischer Typ, ein Einzelgänger. Er kam ins Dorf, nachdem er das Landgut gekauft hatte, La Patience, mit einer schwangeren Ehefrau und einer anderen Frau, die wohl so eine Art Gouvernante war. Er hat sich dort eingenistet, und es war sofort klar, wie er sich fortan verhalten würde: absolute Zurückhaltung. Seine Frau hat das Kind zu Hause gekriegt, allein, vermutlich waren nur er und die Gouvernante dabei.«
Er wies mit der Hand auf das Grab.
»Die Frau starb ein paar Monate nach der Entbindung. Wenn sie in einem Krankenhaus entbunden hätte, wäre es vielleicht nicht passiert. Zumindest hat das der Arzt gesagt, der ihren Tod feststellte.
Aber so war der Mann. Er hasste wohl die Menschen. Den Sohn hat man praktisch nie gesehen, er wurde nicht getauft und ging nicht zur Schule. Hatte wahrscheinlich Privatstunden, vielleicht bei seinem Vater selbst, denn am Ende eines jeden Schuljahres hat er Prüfungen abgelegt, und das war’s dann.«
»Haben Sie ihn jemals gesehen?«
Der Wärter nickte mit dem Kopf.
»Ab und zu, sehr selten, kam er mit dem Vater her und legte Blumen aufs Grab der Mutter. In der Regel kümmerte sich die Gouvernante darum. Einmal ist was passiert …«
»Nämlich?«
»Eine Kleinigkeit, aber vielsagend für die Beziehung zwischen Vater und
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