Ich Töte
prüfte die Stärke des Lederriemens und der Schnalle. Beide schienen ihm robust genug zu sein für das, was er vorhatte. Er steckte den Gürtel wieder durch die Schnalle und schloss sie auf dem ersten Loch, so dass der bewegliche Lederring, den er nun zur Verfügung hatte, so groß wie möglich war.
Nun warf er einen Blick auf den Abhang neben und unter sich.
Mit einigen Schwierigkeiten musste es möglich sein, den toten Baumstamm zu erreichen, der praktisch in einer Linie mit dem, an welchem Pierrot hing, gewachsen und gestorben war. Vorsichtig setzte er sich in Bewegung. Mit den Füßen nach stabilem Halt suchend und sich mit den Händen an Büschen festhaltend, deren Wurzeln ihm sicher im Erdboden verankert zu sein schienen, erreichte er den toten Baum. Die Berührung mit der runzligen Rinde ließ in seinem Geiste blitzartig das Bild der Leiche entstehen, die sie im Bunker gefunden hatten. Ein bedrohliches Knarren des Stammes ersetzte dieses Bild ebenso blitzartig durch das seines Körpers, der, immer wieder aufprallend, den Abhang hinunterfiel. Was für Pierrot galt, galt auch für ihn. Wenn der Baumstamm nachgab oder er selbst den Halt verlor, würde er den Sturz nicht überleben. Er versuchte, diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, und hoffte, dass der Baum stabil genug war, ihrer beider Gewicht auszuhalten. Dann kauerte er 562
sich am Baumstamm nieder und beugte sich nach unten, um dem Jungen den Gürtel so weit wie möglich entgegenzustrecken.
»Versuch, die Schlaufe hier zu fassen.«
Einen kurzen Moment löste der Junge eine Hand von seinem Halt, griff jedoch sofort wieder zu.
»Ich komm nicht dran.«
Noch bevor Pierrot das sagte, hatte Frank begriffen, dass seine Arme und die Lederschlaufe zusammen nicht lang genug waren, um den Jungen zu erreichen. Es gab nur eine Lösung. Er setzte sich hin, hängte sich mit den Kniekehlen an den Baumstamm wie ein Akrobat ans Trapez und ließ sich kopfüber herab, wobei er seinen Oberkörper so drehte, dass er den festen Erdboden unter seiner Brust spürte und einen besseren Überblick hatte, um Pierrot von oben anzuleiten. Die Lederschlaufe in beiden Händen haltend, gelang es ihm diesmal, sie bis zu dem Jungen hinunterzulassen.
»So, ich bin so weit. Jetzt lass den Baum los und halt dich an dem Gürtel fest, eine Hand nach der anderen.«
Er verfolgte die zögernden Bewegungen, mit denen Pierrot fast in Zeitlupe seine Anweisungen ausführte. Trotz der Entfernung vernahm er deutlich seinen vor Angst und Anstrengung keuchenden Atem. Der Stamm, an dem er hing, knarrte bedrohlich, als die zusätzliche Belastung hinzukam, weit beängstigender als vorher. Frank spürte Pierrots Gewicht schwer auf seinen Armen und Beinen lasten.
Er war überzeugt, dass Jean-Loup den Jungen an seiner Stelle ohne große Mühe hochgezogen hätte, zumindest, bis er den Gürtel loslassen und sich irgendwie am Baumstamm hätte festklammern können, an dem er wie eine Fledermaus hing. Frank hoffte inständig, dass er es auch schaffen würde.
Er begann, die Arme nach oben zu ziehen, und spürte, wie die gewaltige Anstrengung den schmerzhaften Druck des Blutes noch erhöhte, das ihm auf Grund seiner Position in den Kopf geschossen war.
Er sah, dass Pierrot Zentimeter um Zentimeter nach oben kam und versuchte, sich mit den Füßen abzustützen. Die unmenschliche Anstrengung ließ Franks Armmuskeln brennen, als habe der leichte Stoff seines Hemdes plötzlich Feuer gefangen.
Die Pistole, die er sich in die Hose gesteckt hatte, rutschte ihm, dem Gesetz der Schwerkraft gehorchend, aus dem Bund und fiel in die Tiefe. Nur knapp verfehlte sie Pierrots Kopf, schlug ein paarmal auf und verschwand.
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Im selben Moment ging durch den toten Baumstumpf ein Krachen, das wie ein Schuss klang oder wie das laute Knacken eines Holzscheits im Kaminfeuer.
Frank zog weiter mit aller Kraft. Der Schmerz in seinen Armen wuchs unter dem Gewicht des Jungen, das mit jeder Sekunde zuzunehmen schien, fast unerträglich. Frank kam es vor, als sei das Blut in seinen Adern zu reiner Schwefelsäure geworden und löse sein Fleisch auf. Bald wäre nur noch sein Skelett übrig, und dann würden die Armknochen, nicht mehr von den Muskeln zusammengehalten, aus den Schultergelenken reißen und gemeinsam mit dem schreienden Pierrot in die Tiefe stürzen.
Doch langsam, ganz langsam, kam Pierrot näher.
Verzweifelt zog Frank weiter, spannte seine Beine an, biss die Zähne zusammen und wunderte sich selbst über seine
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