Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich Töte

Ich Töte

Titel: Ich Töte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Faletti
Vom Netzwerk:
Ausdauer.
    Jeden zweiten Moment überkam ihn der Wunsch loszulassen, die Hände zu öffnen und diese entsetzliche Qual, dieses Feuer, zu beenden, das in seinen Armen brannte. Doch im nächsten Moment spürte er dann, wie ihm von irgendwoher neue Kraft zufloss, als gäbe es in einem verborgenen Teil seines Hirns eine geheime Reserve, einen versteckten Ort, zu dem nur die äußerste Verbissenheit und Hartnäckigkeit Zugang hatten.
    Jetzt war Pierrot so weit heraufgekommen, dass er mit dem Körper nachhelfen konnte. Frank bog seinen Brustkorb, der auf der Erde lag, ein wenig nach oben und schaffte es, sich die Lederschlaufe um den Hals zu legen, so dass ein Teil des Gewichtes auf die Schulterund Rückenmuskeln überging. Im selben Moment noch spürte er die Erleichterung in den Armen. Nachdem er ein oder zwei Sekunden lang die Widerstandsfähigkeit seiner Halspartie ausprobiert hatte, ließ Frank den Gürtel los und streckte Pierrot seine Hände entgegen.
    Mit letzter Kraft gab er ihm Anweisungen, wie es weitergehen sollte.
    »Jetzt machst du genau das Gleiche wie eben. Du lässt den Gürtel ganz ruhig los, eine Hand nach der anderen. Dann packst du meine Arme und ziehst dich hoch. Ich halte dich fest.«
    Frank war sich nicht ganz sicher, ob er sein Versprechen würde halten können. Als Pierrot die Lederschlaufe losließ und sein Hals wieder frei war, empfand er das Fehlen des Gewichts wie eine wohl-tuende Erfrischung auf seinem Rücken, als habe jemand kühles Wasser über seine verschwitzte Haut gegossen.
    Nun fühlte er Pierrots Hände, die sich ängstlich an seine Arme klammerten. Nach und nach, Zentimeter um Zentimeter, kam Pierrot 564

    immer höher, wobei er sich wild an seinem Körper und seinen Kleidern festkrallte. Es war erstaunlich, wie viel Kraft er noch hatte. Der Selbsterhaltungstrieb war ein außergewöhnlicher Verbündeter in manchen Lagen, eine Art natürliches Doping. Er hoffte, diese Kraft möge ihm nicht plötzlich fehlen, jetzt, da die Rettung zum Greifen nahe war.
    Sobald er dicht genug war, packte Frank Pierrots Gürtel, schob ihn nach oben und half ihm, den Stamm zu erreichen. In seinen Augen brannte der Schweiß. Er schloss und öffnete sie wieder und merkte, wie sie sich nach der ungeheuren Kraftanstrengung mit Tränen füllten, die ihm, der kopfunter hing, durch die Augenbrauen und über die Stirn flossen. Nun konnte er gar nichts mehr sehen. Er spürte nur noch die hektischen Bewegungen des Jungen, dessen Körper sich an dem seinen hocharbeitete, welcher nur noch ein einziger, verzweifelter Aufschrei des Schmerzes war.
    »Geschafft?«
    Pierrot antwortete nicht, doch Frank fühlte plötzlich, dass er frei war. Er ließ den Kopf hängen, bis er auf der feuchtwarmen Erde lag.
    Dann merkte er, ohne es zu sehen, wie der Gürtel von seinem Hals rutschte und der Pistole hinterher den Abhang hinunter verschwand.
    Er drehte den Kopf zur Seite, um nicht durch den aufgerissenen Mund, zusammen mit der Luft, nach der seine Lunge lechzte, auch Erde einzuatmen. Der Druck des Blutes in seinen Schläfen war unerträglich geworden. Da hörte er von oben eine Stimme, hinter seinem Rücken. Eine Stimme, die aus unendlichen Weiten zu kommen schien, wie ein fernes Echo von einem Berggipfel. In der Trägheit, die seinen Körper und seinen Geist umfangen hatte, kam Frank in den Sinn, dass er diese Stimme kannte.
    »Bravo, Pierrot. Halt dich an den Büschen fest, und komm zu mir herüber. Jetzt bist du sicher.«
    Frank spürte einen leichten Ruck durch seinen herabhängenden Körper gehen und vernahm ein erneutes Knarren des Holzes, als Pierrots Gewicht vom Stamm abließ. Er dachte, dass der vertrocknete Baum seine Erleichterung teilen müsse, als sei er keine tote Materie, sondern ein lebendiges Wesen.
    Er sagte sich, dass es noch nicht vorbei war. Irgendwie musste er diese entsetzliche Müdigkeit überwinden, diese geistige und körperliche Trägheit, die ihn erfasst hatte, als er Pierrot endlich gerettet wusste. Auch wenn es ihm nicht gelang, auch nur eine Spur von Körper- oder Willenskraft in sich zu finden, wusste er, dass er jetzt 565

    nicht aufgeben durfte. Wenn er sich nur noch eine einzige Sekunde diesem illusorischen Entspannungsgefühl hingeben würde, bekäme er es nicht mehr fertig, sich aufzurichten und am Stamm hochzuziehen.
    Er dachte an Helena und ihr stummes Warten auf dem Flughafen.
    Er sah die Trauer in ihren grauen Augen, diese Trauer, die er vertreiben wollte und vielleicht konnte. Und er

Weitere Kostenlose Bücher